Wachsein im Traum – Theoretische Überlegungen, Analyse und Interpretation von Chris Markers LA JETÉE

1.7.1. Zeitlich und räumlich eingeschränkten Perspektive
1.7.1.1.  Die Rahmung des Bildes

 

Die Idee des Fotos als absolute Bewegung durch den Raum in einer für das Lichtbild selbst stehenden Zeit ist immer noch begrenzt durch den Ausschnitt, das Blickfeld. Es ist die Rahmung des Fotos selbst und beim Triumphbogen in LA JETÉE eine zusätzliche Rahmung einer das Foto abfilmenden Kamera, welche das Blickfeld eingrenzt. Das „Alles-Gleichzeitig“ (Lichtbild des gesamten Kosmos) ist schlichtweg nicht denkbar. Das Foto behält seine Ränder. Die das Bild abfilmende Kamera ist wie der Mensch, der das Foto betrachtet. Vielleicht wie der Mensch, der einen ewig (oder nicht) dauernden Zeitschnitt betrachtet, also erinnert?

Der Umstand der Rahmung deutet dementgegen aber an, dass ein solches Erinnern keine unveränderliche Wahrheit zu Tage fördern kann. Zum einen ist das Bild nicht beliebig groß, was einer solchen Wahrheit vielleicht näher, unseren perzeptiven1 Fähigkeiten aber ferner läge. Dies ist bedingt durch die räumlich eingeschränkte Perspektive eines Beobachters: Sie ist eingeschränkt, weil er sich im Werden befindet und nicht absolut ist. Seine Zeit läuft ab. Erst wenn seine Zeit steht, kann er sich absolut durch den Raum bewegen, in sich aber steht er dann still und kann „Alles“ in einem Moment ohne Ausdehnung „sehen“, weswegen er dann auch kein Beobachter mehr sein kann, sondern selbst Lichtbild des gesamten Kosmos geworden wäre.

Deswegen handelt es sich, was den Schnitt der Rahmung betrifft, um eine räumliche und keine zeitliche Eingeschränktheit, zumal die quantitative Einschränkung des Beobachters auf Seiten des Raumes stattfindet. Der Raum wird eingeschränkt, weil die Zeit uneingeschränkt ist, d.h. läuft. Diese räumliche Perspektivierung führt also dazu, dass das Foto aufgrund der materiellen Eingeschränktheit seiner Existenz kein „Alles“ beschreibt und somit, obwohl seine theoretische Beschaffenheit dies nicht erlaubt, veränderlich wird. Diese Fixierung des Räumlichen zur Perspektive entspricht der Fixierung des oben beschriebenen Spiels, denn das Spiel als Körperliches beschreibt die räumliche Perspektive erst. Fixierung als Perspektive bedeutet, das Spiel wird eingeschränkt. Mit dieser Perspektive wird aber gleichzeitig die Möglichkeit auf Veränderung, also Bewegung, eingeschlossen. Die räumliche Perspektive, der Körper also, schränkt ein und macht Bewegung, man könnte nach Bergson auch sagen: Er macht die (ver)räumlich(t)e Zeit. Der Rahmen des Fotos macht das Foto für den körperlichen Menschen erst erfahrbar, gleichzeitig stellt er aber die Charakteristik des unveränderlichen Lichtbildes des Kosmos, welches das Foto ohne Rahmen ist, in Frage und verändert/bewegt das Gezeigte des Fotos durch diese lineare Sukzession oder Narration. Das eigentlich absichtslose Im-Raum-Sein des Körpers ist es also, was auch schon die Welt immer rahmt, wie ein Foto, und zu einer Narration führt, die an sich Unveränderliches durch räumliche Perspektive um-schreibt. Für LA JETÉE bedeutet dies, die Fotos sind, wie und als Erinnerungen, narrativierbar, veränderbar. Diese Position isoliert betrachtet, müsste hier also vom „reinen Ernst“ die Rede sein, denn der Geist des Zuschauers baut sich die Bilder zusammen wie er will, weil sein Körper/das Spiel hier als Fixpunkt dient, als Perspektive. Folgerichtig kann auch nur dann von einer derartigen Vereinnahmung eines Films von Seiten des Zuschauers die Rede sein, wenn sein Körper nicht zum Hampelmann der Filmnarration wird, sondern seine körperliche Gegenwart stattdessen dem Film ein Verstehensmuster überzieht. Dies ist das Wachsein. Und wie bereits erwähnt wurde, führt die räumliche Eingeschränktheit dazu, dass nicht mehr das Ding Foto betrachtet wird, sondern jenes Mixtum aus Wahrnehmung und Erinnerung – das Gezeigte –  muss gewissermaßen auf die Dauer des Betrachters „getaktet werden“. Alles und jedes hat laut Einstein seine eigene Zeit.2 Doch der Zeitstillstand des Fotos raubt ihm jede Dauer und jede Zeit. Es kann, was sein Gezeigtes betrifft, nur mehr verkostet werden, d.h. zur Identität gebracht werden mit der körpereigenen Bewegung.3-Nachrichten mit Nachrichten vom eigenen Körper. Einem konstanten, unverstandenen Teil (dem Ding) steht ein  wechselnder, verstandener Bestandteil gegenüber: die Eigenschaft oder Bewegung des Dings. Dort heißt es auch: „Und so sondert sich der Komplex des Nebenmenschen in 2 Bestandteile, von denen der eine durch konstantes Gefüge imponiert, als Ding zusammenbleibt, während der andere durch Erinnerungsarbeit verstanden, d.h. auf eine Nachricht vom eigenen Körper zurückgeführt werden kann.“ Der vom Ding verschiedene Teil des Außen-/Neben-Menschen wird also verkostet. Das Ding selbst entspricht dem Vergangenen, dem Anderen.

Freud, Sigmund: Aus den Anfängen der Psychoanalyse, Seite 412-418.] Lediglich das Foto als Ding an sich vermag zu dauern, das Repräsentierte jedoch steht in der Zeit.

1.7.1.2. Die Fahrt des Bildes

Nun ist dieses Bild aber nicht nur durch seine Rahmung zerschnitten, sondern auch durch die Fahrt der Kamera. Diese gibt nun keine räumliche, sondern eine zeitliche Perspektive vor.

Die Fahrt über das Foto im Hinblick auf das Gezeigte verläuft anlog zur obigen Beschreibung, wie eine Sukzession von gerahmten (und in der Narration veränderlichen) unveränderlichen Einzelbildern, die verkostet werden. Die Fahrt aber über das Ding an sich sieht anders aus, denn das Symbol selbst alter(nier)t, es dauert, es bewegt sich in der Zeit. Zwar mag es faktisch so geschehen sein, dass sich eine Kamera über ein in Relation zur Kamerabewegung unbewegtes Foto bewegte, für diese Betrachtung ist dies jedoch gleichwertig mit einer stehenden Kamera über einem dauernden Foto, das sich in sich selbst bewegt und verändert.4 Wie in der von Bergson beschriebenen Dauer, kann diese Bewegung nicht räumlich zerteilt werden, die Dauer selbst ist fix und diejenige, welche diesmal die Perspektive vorgibt. Der Beobachter/die bewegte, abfilmende Kamera nimmt hierbei einen zeitlichen Schnitt vor bzw. seine/ihre Zeit hält an – oder anders ausgedrückt: Die Dauer der Fahrt über das Foto ist gleich der Dauer des Fotos ist gleich ein unveränderliches, wenngleich bewegtes, Faktum gegenüber jedem Außen.5 Das eigene Dauern des Bewusstseins des Beobachters wird ausgeblendet bzw. wird zum Dauern des Fotos. Dabei bleibt der Körper des Beobachters das freie Spielbein, welches sich nun nach oder in jener Dauer (ein)richtet, die das dauernde Foto vorgibt. Die Folge für den Film ist, dass der Zuschauer/sein Dauern/Bewusstsein zum Film wird und sein Körper „mitfiebert“. Isoliert betrachtet handelt es sich hier also um das oben beschriebene Spiel. Verändert wird hier nicht das Gezeigte des Fotos, wie in der Narration des Ernst, sondern das materielle Foto verändert sich selbst und folglich den Zuschauer.

Das Bild mit der Fahrt über den Triumphbogen vereint diese beiden Positionen. Es wird verkostet und verkostet den Zuschauer. Deswegen stellt sich das Bildhafte und das Narrative dieses Bildes selbst aus, es wird, wie die Analyse es nennen wird, selbstreferentiell.

Ernst und Spiel fallen beide unter eine Kategorie, die der „erste Aspekt der Narration“ genannt werden kann. Ernst und Spiel sind zwei Arten von Narration/Kommunikation, die, wie die folgenden Absätze zeigen werden, durch eine (jeweils andere) Art der Ignoranz (mal gegenüber dem Innen, mal gegenüber dem Außen) eine Einheit schaffen, also verbindend wirken. Die Funktion des ersten Aspektes der Narration ist, das Davor mit dem Danach zu verbinden oder zu vereinen, genauso wie das Innen mit dem Außen, kurz: Zwei Andersheiten vereinen. Später wird noch vom „zweiten Aspekt der Narration“ die Rede sein, der eher gegenteilig wird, nun aber soll zunächst der erste Aspekt näher erläutert werden.

1.8. Leben

Um die Arten der Narration/Kommunikation sowie das oft verwendete Wort „verkosten“ besser zu veranschaulichen, versuche ich eine genauso fundamentale wie simple Theorie der Kommunikation zu erstellen, die diesen Sachverhalt erklärend beschreibt. Hierzu ist es zunächst notwendig, auf das Leben einzugehen.

Wie der Wissenschaftler Michael Russel in seinem Artikel „Der heiße Ursprung des Lebens“ in dem Wissenschaftsjournal Spektrum6 bemerkt, ist das Innen und Außen eine maßgebliche Strukturierung für das Entstehen von Leben. Vor Hunderttausenden von Jahren schlossen sich Moleküle auf den Tiefen des Ozeans zu komplexen Verbindungen zusammen, welche, angeregt durch den schwefelhaltigen Ausstoß warmer Quellen am Grunde der Meere, eine Art rein chemischen Organismus formen konnten, dadurch, dass sie sich mit einer Art Membran von den Umweltbedingungen des Außen abgrenzten. So konnten aufgrund des alternierenden Klimas im Inneren, chemische Prozesse ablaufen, welche heute als der Ursprung des Lebens betrachtet werden, noch vor der Photosynthese. Und wieder einmal war der entscheidende Faktor für diese Bewegung/dieses Leben die Differenz, in diesem Fall die Differenz der Bedingungen zweier Systeme. Dabei sind die im Inneren der „Zelle“ ablaufenden Prozesse zwar abgeschirmt vom Außen, aber dennoch sehr abhängig von den äußeren Bedingungen (den Absonderungen der warmen Quellen usw.). Allerdings findet keine 1:1-Kommunikation zwischen den beiden Systemen statt, denn diese würde die Entstehung des Lebens verhindern, würde die Membran doch zerstört werden. Versucht man zu diesen Theorien und Forschungen der Biologie zum Ursprung des Lebens ein einfaches Prinzip abzuleiten, welches vielleicht allgemeinere Anwendung finden kann, so schlage ich folgende vereinfachende Faustformel vor: Leben = (retardierte) Bewegung, entsteht durch gleichzeitige Abgrenzung und Interaktion eines Systems von einem anderen bzw. seinem Umweltsystem. Die Abgrenzung bewirkt hierbei die Interaktion, zumal sie Gefälle entstehen lässt. Dabei ist die Interaktion stets eine Übersetzung ausgewählter Zustände des einen Systems in das andere. Diese Interaktion kann folglich als die grundlegendste Form dessen bezeichnet werden, was „Kommunikation“ genannt wird.

Vielleicht erscheint es absurd, biologische Forschungen und Theorien derart simplifizierend auf andere Überlegungsfelder anzuwenden. Aus folgenden Gründen will ich dennoch daran festhalten: Auch die Biologie als positive Naturwissenschaft unterliegt dem Fluch der Bedingungen der Möglichkeit ihrer Erfahrung, soll heißen, es besteht immer die Möglichkeit, dass sie exakt das findet, was sie sucht bzw. womöglich exakt mit der Natur übereinstimmende Ergebnisse erzielt, die Auswertung dieser Ergebnisse jedoch immer noch der Interpretation unterliegen – einem Beschäftigungsfeld, mit dem sich die positive Wissenschaft nicht immer auseinandersetzt. Deswegen erscheint es mir wenig abwegig, entdeckte Prinzipien aus der Forschung heraus zu destillieren. Prinzipien beschreiben Kräfteverhältnisse und Relationen von Dingen. Dabei sind Kräfte, wie sie die Naturwissenschaft beschreibt, nur eine Art von Vektoren ohne tatsächliches, direktes Äquivalent, sondern immer schon wieder Analogien und Arten der Veranschaulichung bzw. Übersetzung, um Naturbeobachtungen begreifbar zu machen oder zu veranschaulichen.7 Die Beschreibung von Kräften und Relationen ist also bereits eine Metasprache, welche ganz unabhängig von jeder Bedeutung der Dinge Strukturen nachzeichnet. Prinzipien erscheinen mir folglich wie die Grammatik des Seins, und da wir selbst letztendlich nichts anderes sind als Dinge im Sein und naturwissenschaftliches Betrachtungsobjekt, erscheint mir die Anwendung solcher Prinzipien auch auf Themen der Geisteswissenschaft keinesfalls verwerflicher als etwa die Interdisziplinarität an sich oder die relationale Positionsbestimmung/Profilierung, die sich in und mit jedem Zitat wieder bestätigt sieht, ohne jedoch jemals die Berechtigung/das Versagen des Zitierten nachweisen zu können. Das alles sind lediglich Versuche der Analogie, aber mehr scheint uns nicht zu bleiben.

Um wieder zum Leben zurückzukommen, bleibt ein weiterer wichtiger Aspekt zu benennen. Die Innen- /Außen- Membran des Lebens beschreibt eine Art Regelkreis. Ein Regelkreis kann am einfachsten mit dem System einer Heizung mit Thermostat beschrieben werden. Die Heizung erwärmt den Raum, das Thermostat misst die Temperatur im Raum. Ist eine gewisse Temperatur erreicht, schaltet das Thermostat die Heizleistung tiefer oder ab. Der chemische Organismus funktioniert ähnlich. Letztendlich wohl aus Zufall (Zusammentreffen günstiger Umweltbedingungen) entsteht ein chemischer Komplex, welcher sich mit einer Membran von seinem Außen abschottet. Die Membran ist dabei Teil seines Seins. Da der chemische Komplex nicht ohne seine Umwelt leben kann, wird diese Membran durchlässig sein für diverse Stoffe (Filter). Diese Stoffe wiederum regen Prozesse im Inneren des Komplexes an, welche außerhalb so nicht ablaufen könnten. Durch diese Prozesse nun wird die Beschaffenheit der Membran mitbestimmt und die Beschaffenheit der Membran wirkt abermals zurück auf die Prozesse, welche im Komplex ablaufen. Es ist ein sich selbst regulierendes System in Abhängigkeit zu seiner Umwelt, bis zu einem gewissen Grad anpassungs- bzw. lernfähig. Das Entscheidende ist die Filterfunktion der Membran und genau genommen ist dieser veränderliche Filter mit anhängender Innen- /Außen- Trennung das Leben.

1.9. Kommunikation und Verkostung

Wenn nun also Leben die Kommunikation so wie deren Unmöglichkeit (Abgrenzung des Lebens zum Außen) bereits per Definition einschließt, lohnt es, eine Theorie zu entwerfen, welche den als paradox gesetzten Vollzug der Kommunikation8 besser beschreiben kann. Es muss also ein äußeres System dergestalt in Kontakt treten mit einem inneren, dass zwar eine Beeinflussung stattfindet, allerdings eine Ursache eine andere Wirkung im Außen als im Innen zeitigt.

Was in der Sprache der Kommunikation also „ausgetauscht“ wird, ist Information. Dabei kann wohl davon ausgegangen werden, dass nicht eine wie auch immer geartete und substantielle Nachricht vom Empfänger zum Sender übermittelt wird. Bezüglich der Sprache erkennt Bergson hier eher ein „Raten“ der gemeinten Information. Nicht das Gesagte ist es, welches wie ein Schlüssel Folgeprozesse im Empfänger auslöst, vielmehr versucht der Empfänger das, was ihm gesagt wird, zu antizipieren, wobei er es allerdings mit dem Verstandenen abgleicht. In seinem berühmten Stromkreismodell wendet er dieses Prinzip auch auf das System Wahrnehmung/Erinnerung an.9 Ein ähnliches Model schlägt die Kognitionspsychologie vor, wenn sie von Hypothesenbildung spricht10 und auch Lacan scheint sich hierauf zu beziehen, wenn er in seiner alpha-beta-gamma-delta – Kette eine „Wette auf die Zukunft“ erkennt, welche er mit dem Münzspiel aus E.A. Poes Kurzgeschichte „A purloined Letter“ in Verbindung bringt.11 Extrapoliert man die Bedeutung dieser Herangehensweise, so könnte man sagen, dass zumindest bis zu einem gewissen Grad nie etwas verstanden/ übermittelt werden kann, wozu der Empfänger nicht schon irgendwie die Anlagen oder die Möglichkeit des Verständnisses besitzt.

Wir verstehen also nur, was wir verstehen. Waldenfels12 spricht deshalb auch von einem „absolut Fremden“ und der „Fremderfahrung“ als zweierlei, wobei Ersteres erst gar nicht zur Erfahrung werden kann und Letzteres eher den hier beschrieben Fall bedient. Folglich wird nicht eine Information übermittelt wie ein Paket oder ein Ding, es findet also kein Austausch von Massen statt. Stattdessen scheint es sich eher um eine Art Stimulierung zu handeln, der aktiv begegnet wird. Betrachtet man nun aber das Modell primitiven Lebens der Biologie, so sind es doch Stoffe/Massen, die ausgetauscht werden. Was stimmt nun? – Ich denke beides, es hängt jedoch von der Perspektive des Betrachters ab. Freilich beschäftigt sich die Biologie mit ausgedehntem Sein und die Psychologie mit unausgedehntem, jedoch scheint es mir möglich, beides zusammenzufassen.

Die Stoffe, welche durch den Filter/die Membran diffundieren sind materieller Natur, mit einer spezifischen Oberfläche und spezifischen Eigenschaften. Der Filter ist sensibilisiert für ein gewisses Spektrum von Eigenschaften, von denen einige positiv (durchlassen) und andere negativ (stoppen) „bewertet“ werden. Dabei kann der Filter aus logischen Gründen nie ein unendliches Spektrum aufweisen (würde er das, müsste er selbst aus allen nur denkbaren Kombinationen existierender Materie bzw. Antimaterie bestehen, was ihn wiederum als materiellen Komplex ad absurdum führt), und er kann auch nicht die an seine Schranken klopfenden Teilchen in ihrer Ganzheit erfassen. Das soll heißen, er versteht sie nicht nur hinsichtlich seines Spektrums nur eingegrenzt, sondern auch jene, die in sein Auswahlverfahren passen, misst er nur insofern, wie seine eigene Struktur es zulässt (er misst nur gewisse Bereiche der Teilchen). Deswegen findet einerseits ein materieller Austausch von Information/Teilchen statt, andererseits macht aber auch schon dieser Filter Hypothesen, so absurd es klingen mag.

Eine mögliche Hypothese lautet meinetwegen: Dieses Teilchen passt aufgrund seiner materiellen Eigenschaften durch meine Filterstruktur, also wird es Prozesse unterstützen, die meinen eigenen Erhalt sichern.13 Dies kann und muss eine Hypothese sein, genau weil der Filter niemals alles über das einzulassende Teilchen weiß, denn das kann nur Gott.

Dabei muss das Verborgene in diesem Fall gar nicht zwangsläufig unausgedehnt14 sein. Es kann sich einfach um Eigenschaften handeln, die die Messtiefe des Filters unterlaufen. Vielleicht klingt das nun etwas verrückt, aber es besteht auch die Möglichkeit, dass alles, was die Messtiefe unterläuft, unausgedehnt ist und trotzdem nicht. In der Physik ist dieses Phänomen als Messproblem bekannt. Es entfaltet seine volle Tragweite vor allem in Zusammenhang mit der Heisenberg´schen Unschärferelation. Für die Quantenmechanik bedeutet dies: Teilchen besitzen, bevor sie auf eine bestimmte Eigenschaft gemessen werden, diese Eigenschaft eigentlich gar nicht, wie sie keinen fest bestimmbaren Ort oder eine feste Geschwindigkeit einnehmen.15 Auch materielle Teilchen können aber über eine Wellenfunktion beschrieben werden (Schrödingergleichung), welche jedoch nur Wahrscheinlichkeiten, das Teilchen betreffend, angibt.

Zurück zu meinem Problem: Einerseits soll der „Informationsaustausch“ antizipiert werden, was keinen materiellen Austausch nötig macht, bestenfalls Stimulation, andererseits tauscht unser chemischer Komplex in dem, was ich ebenfalls Leben oder Kommunikation nennen will, sehr wohl Materie aus. Wenn nun aber Teilchen bezüglich gewisser Eigenschaften vor der Messung unbestimmt sind16, so kommt das einem materiellen Nicht-Sein gleich. Es ist sogar nicht nur ein materielles Nicht-Sein, sondern sogar mehr (vielleicht ein existentielles?), denn jede Art der Wirkung, welche ein derartig ungemessenes Teilchen hervorrufen könnte, kommt erst dann ins Sein, wenn das Teilchen gemessen wird und bleibt genau solange im Verborgenen, wie es nicht gemessen wird. Daraus folgt, dass jedes Teilchen, welches den Filter passiert oder von ihm abgewiesen wird, verkostet wird. Und verkostet kann jetzt erklärt werden mit: Der Filter bestimmt aufgrund seiner eigenen Beschaffenheit, was wie gemessen wird. Allem anderen gegenüber herrscht blanke Ignoranz. Da aber die Teilchen das Potential zu mehr haben als nur zu dem Gemessenen, werden sie nicht als das verstanden/verarbeitet was sie sind/sein könnten, sondern sie werden als gleichwertige und gleichartige Teilchen behandelt wie jene, aus denen der Organismus selbst besteht. Dementsprechend werden sie auch für seinen Stoffwechsel verwendet: verkostet oder ausgeschieden etc.

Es gibt also in der fundamentalen Kommunikation zwei Herangehensweisen: die nicht materielle, hypothetische und die materielle, praktische. Beide finden gleichzeitig statt, weswegen hier von Verkosten die Rede sein kann. Erst ein intelligentes Lebewesen ist überhaupt in der Lage dies zuzulassen, da nur ein solcher Organismus die Umwelt willkürlich und zumindest teilweise unabhängig nach der eigenen Not des Lebens „modellieren“ kann. Dies kann er deswegen, weil die Latenz, also die Verzögerungszeit der Reaktion auf die Umwelt, in einem größeren und komplexeren Organismus diesen Spielraum ermöglicht.

Wäre nur die praktische Kommunikation am Werke, könnte nicht die Rede von intelligentem oder bewusstem Leben sein. Materie würde nur interagieren, mit sehr geringer Verzögerung. (Fast scheint es in diesen Überlegungen, als sei die Länge der Verzögerung ausschlaggebend für das Maß der Intelligenz der Lebensform.) In diesem Fall würde alles alles verkosten. Auch die hypothetische Kommunikation kann nicht allein stattfinden, denn ohne Materie kann es keine Hypothesen geben.

Eine nicht verkostende Kommunikation findet erst dann statt, wenn der Organismus seine eigene Not des Lebens negiert und damit selbst von der äußeren Materie verkostet wird, was freilich lebensgefährlich ist. Dies beschreibt das „der-Andere-Sein“. Diese Herangehensweise kann man Spielen nennen (VerkostetWerden), und Spielen erfordert, wie bereits erwähnt, einen Einsatz, genauer den Einsatz des Lebens. Das Verkosten hingegen erfordert keinen Einsatz des Lebens, es sei denn dem Filter unterläuft irrtümlicherweise ein Fehler. Beim Spiel aber wird bereits vorausgesetzt, dass die Hypothesen nicht jene sind, welche der eigenen Not des Lebens entsprechen, also unwirklich sind, wie auch jeder Film, so packend er auch sein mag, seine immersive Wirkung immer unter der Voraussetzung des ständigen Wissens um seine „Unwirklichkeit“ erlangt. Verkosten ist also eine Ignoranz gegenüber der Umwelt, Spielen eine Ignoranz gegenüber dem Selbst.

Hiermit endet der theoretische Teil und gleichzeitig die Beschreibung des Standpunkts, von welchem aus diese Arbeit blickt, bzw. das Welt- oder Lebensverständnis, auf welchem sie aufbaut:

Der Körper ist die Not des Lebens, als die materielle Beschaffenheit des gesamten Organismus selbst. Dieser gibt Zwänge vor, die, sofern sie nicht eingehalten werden, zum Tod des Organismus führen. Der Körper selbst spielt absichtslos.

Der Geist ist die logische Struktur der Filterfunktion dieses Organismus. Er ist also mehr Funktion als faktisch anwesend. Er umfasst die Hypothesen zum Innen und Außen und verbindet durch seine logischen Operationen den Körper des Organismus mit dem Außen, genauso wie er ihn davon trennt. Sein Sein ist reversibel und zeitlos, weil es nur Funktion ist.

 

 

 

 

 

  1. Die Perzeption wird im Raum wie in der Zeit begrenzt. Zum einen nehmen wir nur wahr, was im Umfeld der Sinne liegt. Mögliche Teile des Universums, deren Licht uns noch nicht erreicht hat, nehmen wir laut Relativitätstheorie noch nicht einmal als Gravitation wahr. Zum anderen ist unser Leben begrenzt, der Ereignishorizont der Perzeption weitet sich nicht ewig aus. Jede Weltlinie zieht einen zwischen den Achsen der Lichtgeschwindigkeit eingeschlossenen Ereignishorizont der Vergangenheit nach sich oder schiebt einen solchen zukünftigen Kegel vor sich her. Dieser Kegel wüchse ins Unermessliche und alles wird möglich geworden sein, wenn wir nur ewig lebten. Vgl. Anhang – Weltlinie, Seite 122.
  2. „Jeder Beobachter hat seine eigene Uhrzeit…“ Schmidt-Denter, Kerstin: Albert Einstein, Wie die Zeit relativ wurde und die vierte Dimension entstand, Seite 5.
  3. In der „Verneinung“ schreibt Freud, auf sein Neuronenmodell aus dem Entwurf von 1895 zurückgreifend: „Nach unserer Annahme ist ja die Wahrnehmung kein rein passiver Vorgang, sondern das Ich schickt periodisch kleine Besetzungsmengen in das Wahrnehmungssystem, mittels deren es die äußeren Reize verkostet, um sich nach jedem solchen tastenden Vorstoß wieder zurückzuziehen.

    Zitiert aus: Gasser, Reinhard: Nietzsche und Freud, Seite 675.

    Im Entwurf von 1895 beim vom Urteilen abgespaltenen Denkvorgang spricht Freud nun vom teilweisen Zusammenfallen der ω [Omega

  4. Da laut Relativitätstheorie nur die Lichtgeschwindigkeit absolut ist und somit die Idee des Raums als eine Art Äther hinfällig wird, sind Körper dann in „Ruhe“, wenn keine Kräfte auf sie wirken, also gewissermaßen im freien Fall. Jedoch ist fraglich, ob es diesen Zustand der absoluten Isolation überhaupt gibt. Deswegen kann auch nicht entschieden werden, was sich bewegt und was ruht, ob es das betrachtete Objekt ist oder der Beobachter.
  5. Diese Konstruktion behebt eines der größten Probleme, die ich mit Bergson habe. Bei Bergson entspringt das schöpferische Neue der (geistigen) Dauer, alles Materielle hingegen sei bloß in einer räumlich zerteilbaren Zeit. Demzufolge ist die ausgedehnte Welt, sähe man von Lebewesen ab, laut Bergson (Zeit und Freiheit) vorhersehbar und berechenbar, wie es der Laplacesche Dämon beschreibt.

    Dies verträgt sich aber gar nicht mit der Heisenbergschen Unschärferelation, die einen derartigen Determinismus erheblich einschränkt und der Materie vielmehr Zufall zugesteht, Zufall auch im Sinne von Bergsons schöpferischen Neuen. Hier nun versuche ich Geist und Körper in einer sich überkreuzenden Wechselbeziehung derart zu fassen, dass die deterministische, räumliche Zeit dann Oberhand gewinnt, wenn der Körper die Perspektive vorgibt, gleichzeitig aber, durch die perspektivische Fixierung des Körpers, der Geist es ist, welcher sich in jenen deterministischen Mustern bewegt, denn er ist der Veränderbare, zumal nur der Körper als Perspektive fungiert.

    Andersherum wird immer, wenn der Geist in Form der Dauer die Perspektive bestimmt, der Körper zum Spielmacher, der dann aber in einer nicht-deterministischen Zeit, der Dauer nämlich, und gemäß den quantenmechanischen Erkenntnissen des Zufalls, zum schöpferisch neuen Spiel in der Lage ist.

    Es mag sein, dass die Dauer dem Geist entspringt, aber sie beschreibt seine Perspektive, in der er sich eben deswegen nicht bewegen kann, sondern nur der Körper. Und es mag sein, dass die räumliche Zeit dem Körper entspringt, aber wegen seiner Fixiertheit in dieser räumlichen Zeit-Perspektive ist es der Geist, der sich in ihr bewegt.

    Dreh- und Angelpunkt ist also die Perspektive, die für das perspektivische Zentrum in Relation zum Außen immer eine Unbewegtheit beschreibt, genauso wie sie es dadurch gleichzeitig ermöglicht, Bewegung zwischen dem Außen und dem Zentrum zu schaffen. Je nachdem, welcher Art die gewählte Perspektive ist, so ändert sich die Art der Bewegung. Das Zentrum ist dabei immer ein Teil des Außen, ein Teil des Ganzen, ein Innen in Abgrenzung zum Außen und genau diese Differenz bringt die Bewegung oder eben das Leben hervor, wie nachfolgende Absätze näher erläutern werden.

    Bergson behebt dieses „Problem“ selbst in Materie und Gedächtnis, indem er, wenngleich meines Erachtens nicht immer ganz widerspruchsfrei zu seinen früheren Schriften, das Materielle über Kontraktionsstufen mit der Dauer verbindet. Derart vereint kommt die Idee des Laplaceschen Dämons nicht mehr in Frage, jedoch stellt sich das Problem von Monismus und Dualismus. Deleuze bemerkt hierzu allerdings: „Die Einheit stellt sich in einer zweiten Biegung her: Die Koexistenz aller Grade und aller Ebenen ist virtuell und lediglich virtuell. Der einheitsstiftende Punkt ist selbst virtuell. Dieser Punkt ist nicht ohne Ähnlichkeit mit dem Ganzen-Einen der Pla­toniker. Alle Abspannungs- und Kontraktionsebenen ko­existieren in einer einzigen Zeit und bilden eine Totalität; doch ist dieses Ganze und dieses Eine reine Virtualität. Dieses Ganze hat Teile, dieses Eine hat eine Zahl, doch einzig der Potenz nach.2 Insofern widerspricht sich Berg­son nicht, wenn er von Intensitäten oder verschiedenen Graden redet, die innerhalb einer virtuellen Koexistenz, ei­ner einzigen Zeit, einer einfachen Totalität stehen.“ In: Deleuze, Gilles: Henri Bergson, zur Einführung, Seite 118.

  6. Russel, Michael: Der heiße Ursprung des Lebens, in: Spektrum der Wissenschaft, Seite 74-81.
  7. Hagen, Wolfgang: Fotofunken und Radiowellen, Über Feddersens Bilder und die Hertzschen Versuche: „Das Mathematische selbst, eine Gleichung, die Funktion von Operatoren sind nicht beobachtbar; denn sie selbst sind, wenn überhaupt, das Beobachtende. In den Maxwellschen Gleichungen operiert außer Vektoren nichts, was eine elektromagnetische Welle repräsentieren könnte. Es sei denn man behauptete, zum Schrecken von Feynman, eine “Zahl im Raum” sei vorstellbar. Wenn nicht, so gibt es nichts Vorstellbares in der Natur, das Maxwell entspricht. Jenseits des Operativen, der Operatoren und Operationen der Mathematik ist nichts zu behalten, nichts zu begreifen und nichts zu vergessen.“
  8. Das lateinische communicare beinhaltet ebenfalls schon das Vereinigen sowie das Teilen, wie das deutsche mit-teilen.
  9. Was das Wiedererkennen betrifft, schreibt Bergson: „Von wel­cher Anzahl und Art die eingeschobenen Glieder auch sein mögen, wir gehen nicht von der Wahrnehmung zur Idee, sondern von der Idee zur Wahrnehmung, und der Vorgang des Wiedererkennens ist in seinem Wesen nicht zentripetal, sondern zentrifugal.“ In: Henri Bergson: Materie und Gedächtnis, Seite 125.
  10. Ohler, Peter: Kognitive Theorie der Filmwahrnehmung: der Informationsverarbeitungsansatz.
  11. Siehe: Wegener, Mai: Neuronen und Neurosen, Seite 47ff.
  12. „…dass Eigenes und Fremdes bei aller Absonderung mehr oder weniger ineinander verflochten und verwickelt sind. Dieses Ineinander schließt eine völlige Deckung oder Verschmelzung von Eigenem und Fremdem ebenso aus wie eine vollständige Disparatheit. Insofern kann im interpersonalen wie im interkulturellen Bereich von einem absolut oder total Fremden nicht die Rede sein.“ In: Waldenfels, Bernhard, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Seite 118.
  13. Vergleiche die Aussage von David Hume: „Unsere Sinne belehren uns über Farbe, Gewicht und Festigkeit des Brotes; aber weder Sinn noch Vernunft können  uns je über jene Eigenschaften belehren, die es für die Ernährung und Erhaltung geeignet machen.“

    Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Seite 43.

  14. Vielleicht wäre es besser, anstatt von „ausgedehnt“ von „existent“ zu sprechen. Zwar gibt es laut Superstringtheorie sogar ausgedehnte Teilchen/Strings ohne Masse, aber eigentlich ist hier mit „ausgedehnt“ alles gemeint, was energetisch vorhanden ist.
  15. Vgl. auch das berühmte Gedankenexperiment mit Schrödingers Katze.
  16. Es soll hier nicht versucht werden, die Quantenmechanik auf einen wie auch immer gearteten chemischen Komplex des primitiven Lebens anzuwenden. Meine Beschäftigung mit dem primitiven Leben ist, wie oben bereits erwähnt, prinzipieller Natur. Es ist nicht anzunehmen, dass sich dieser Komplex in einer Größenordnung manifestiert, welche über die Quantenmechanik beschrieben werden muss. Es geht aber auch nicht um ein kohärentes naturwissenschaftliches Modell, sondern um eine Theorie zur Klärung der Kommunikation mithilfe von Naturprinzipien. Hierzu werden die besprochenen Prinzipien interpretiert.
Nach oben scrollen