1.5. Gefühl des Vergangenen als Reaktionsaufschub
Dem oben Gesagten zufolge, ist dann ein Moment im Film, in welchem Handlung bzw. Narration blockiert wird, nicht nur wie Grodal in seiner Untersuchung der Affekte und Kognition im Film sagen würde, ein Moment, welcher ein gesättigtes Gefühl im Gegensatz zu einer handlungsanleitenden Emotion auslösen würde, sondern dieses gesättigte Gefühl stünde dann auch im Zusammenhang mit dem Erkennen (und Umschiffen) des Vergangenen. Hiermit lässt sich auch bei Grodal leichter erklären, warum er von solch einem Gefühl spricht: Das Vergangene ist das Unveränderliche und deswegen ähnlich der Tragödie, welche unweigerlich ihrem traurigen Schicksal entgegenläuft. Die tragische Trauer ist eine kühle und reine. Kühl, weil sie in einer befriedigenden Resignation endet, leibesempfindungslos. Eine ergebene Trauer gegenüber den unveränderlichen Weltverhältnissen. Rein, da sie ohne Wunsch auf Abänderung angenommen wird.1 Mit dem Vergangenen wird der Mensch mit einem eben solchen Blockierenden, Unveränderlichen konfrontiert. Alles, was er verstehen kann, ist, DASS es so geschieht, deswegen befriedigende Resignation. Gleichzeitig erlangt der Mensch so das Wissen um dieses Unabänderliche, weswegen er es zwar nicht versteht, dieses Nichtverstehen erweitert aber seine Erkenntnis und deswegen wird es als Tatsächlichkeit ohne Wunsch auf Abänderung angenommen. Grodals gesättigtes Gefühl scheint also, hervorgerufen durch die Blockierung der Handlung, dem Tragischen sehr nahe zu stehen, weswegen es durchaus sinnvoll erscheint, in solch einem Moment der Blockierung die Gefühle zu konsultieren. Jedoch sind diese Gefühle nur im Hinblick auf die Handlungsweiterleitung des Betrachteten passiv, denn ein Effekt der Handlungsblockierung ist die Aktivierung des Bewusstseins des Zuschauers. Der Zuschauer erkennt das Vergangene auf der Leinwand, d.h. er wird nicht mehr vom Lauf des Filmes mitgezogen, sondern sieht trotz der Bewegtheit des Films keine gemeinsame Gegenwärtigkeit mehr, sondern eine Diskrepanz zwischen seiner eigenen Bewegung und der des Films – wie der Zuschauer in der Tragödie auch, denn nur so kann ja der Effekt der Katharsis erreicht werden.2 Er kann also, wach, den Moment der Re-Aktion und somit des Verständnisses und der Narration beliebig dehnen, seine (gefühlsmäßige oder wie auch immer geartete) Antwort zurückhalten usw.
Ein kleines Beispiel soll dies erläutern:
Es ist, als begegnete man einem Käfer, der auf dem Rücken liegt und heftig mit den Beinen strampelt. Man teilt, trotz der im gemeinsamen Raum ausgeführten Bewegung, nicht die gleiche Gegenwärtigkeit. Man muss sich nicht sorgen, den Käfer von den Keksen fernzuhalten oder vom Hosenbein, denn er dreht sich gewissermaßen im Kreis. Er hat zwar Bewegung, aber keine Wirkung. Das Verhältnis zum Käfer wird sich ändern, wenn man ihn wieder auf die Beine stellt, aber in fast schon sadistischer Manier kann man es noch einen Moment auskosten, ihn derart auf Distanz zu halten, kann sich noch einmal vergegenwärtigen, wie es sich anfühlt, nicht mit diesem Plagegeist die Gegenwart zu teilen, obwohl er da ist und sich bewegt. Und wenn er dann wieder über den Tisch krabbelt, sind wir erneut in ein Aktions-Reaktionsschema eingebunden: Wir schieben die Kekse beiseite, holen eine Zeitung und kehren ihn vom Tisch.
Wie der laufende Käfer auf dem Tisch, treibt uns der klassische, narrative Film an, zwingt uns zu handeln, doch diese Art der Aktivität hat nichts mit der Aktivierung des eigenen Bewusstseins, des eigenen Geschichtenerzählzentrums zu tun. Da keine Distanz herrscht, teilt sich der Zuschauer die Gegenwart mit dem Film, lässt sich eine Geschichte erzählen und passt sich (im Idealfall) der vom Film vorgegebenen Gefühlsökonomie an, wie ein Hampelmann oder ein willenloser Zombie. Wir zucken zusammen, wenn das Alien um die Ecke schießt, heulen, wenn Maron die Kehle durchgeschnitten wird, triumphieren, wenn wir bis zu 2 Liter Blut schlucken können und sind gerührt, wenn der Terminator menschlich wird (eigentlich werden wir maschinisch!). Und wenn meine Theorie stimmt, dann ist das eigene Bewusstsein, die eigene Zeit bzw. das eigene Dauern des Zuschauers in diesen Moment derart ausgeblendet, dass die Gefühle auf das Dauern des Films gerichtet sind, und es wird ein Verständnis erreicht, das vielleicht sogar noch größer ist als bei der Empathie. Der Zuschauer versetzt sich nicht in den oder das Andere hinein, nein, der Zuschauer als autonomer Mensch hört auf zu existieren, und sein ausgeblendetes, eigenes Dauern/Bewusstsein ersetzt er mit dem des Films. Deswegen ist es kein sich-in-den-Anderen-Hineinversetzen. Ohne das sich wird es nämlich zu: Der-oder-das-Andere-sein.3 Wir sind das Gefühl des kollektiven Triumphs der Menschheit über die Außerirdischen, wir sind der Beginn einer wundervollen Freundschaft, wir sind der Geheimagent seiner Majestät und wir sind der Wind, das Pferd, die wehenden Haare und die Elfe, die herbeieilt, um uns selbst zu retten. Wir sind alle das Opfer dessen, was Hitchcock den „Thrill“ und die „Suspension“ nennt. In diesen Momenten im Film sind wir Getriebene, aber wehe, wehe, wenn sich das Popcorn des Nebenschauers zu laut bemerkbar macht oder das Bier in der Blase oder der Bildstand des Projektors oder… die Umwelt – und zu dieser zählt in jenen Momenten selbst der eigene Körper, wenn er andere Aktionen als jene, die der Film vorgibt, ausführt – wir sind der Film und unsere „Not des Lebens“ wird nun bestimmt durch die Bilder der Leinwand oder versenkt in der Dunkelheit des Kinosaals, zusammen mit dem Rest an Umwelt, konkurrierender Gegenwart und aktivem Bewusstsein. Dabei ist es eine Illusion, der Körper selbst werde für die Dauer der Vorstellung aufs Abstellgleis geschoben. Wir schwitzen und fiebern, verkrampfen und kichern, kauern und knirschen, seufzen und atmen durch, wie es der Film uns gebietet, weil der Film uns verkostet.
Wenn aber die Bewegung oder Dauer des Films auf dem Rücken liegt und strampelt, wenn sich das Gezeigte nicht als Führer anbietet für unseren Körper, weil es sich, trotz Bewegung, nirgendwohin bewegt und scheinbar auf der Stelle tritt bzw. seine Bewegungen von unserem Körper nicht nachvollziehbar sind, also der Fortschritt nicht verstanden und erkannt wird, dann weitet sich das eigene Dauern teilweise über den Film hin aus und verleibt ihn sich stellenweise sogar ein. Allerdings wird auch erkannt, dass der Film dauert und sich bewegt, nur eben unverständlich. Letzteres geschieht immer dann, wenn vom „Vergangenen“ die Rede ist, also eher bei Fotos als bei Film, und hier kann der Moment der Reaktion aufgeschoben werden.
Diese beiden Herangehensweisen an Film bzw. Foto finden in sich ausschließenden und dennoch gemeinsamen Bereichen statt, die ich Spiel und Ernst nennen will. Durch diese Begriffe soll verdeutlicht werden, wie gegenwärtiger Körper und zeitloser Geist auf Film reagieren können.
1.6. Das Spiel und der Ernst
Das Spiel ist tödlich, weil es gegenwärtig ist und vergeht. Es wird immer ein Einsatz gefordert, und das Spiel, wie es auch ausgehen mag, hinterlässt seine Narben. Der Ernst passiert nicht, er ist immer. Er ist körperlos und unvergänglich in seinem ewigen Theoretisieren. Er hinterlässt keine Spuren und ist jederzeit reversibel. Das Spiel scheint dem Körper, der Ernst dem Geist nahe zu sein.
Im Spiel ist der Körper freigesprochen von jeglichem Vorsatz. Das Spiel dient keinem Zweck, es dient nur sich selbst. Diese Beschreibung trifft sehr gut auf Gegenwärtigkeit zu und dies erscheint auch als das wichtigste Kriterium des Körpers: Er ist als aktualisiertes Sein immer gegenwärtig und diese Gegenwart dient keinem Zweck. Keine Gegenwart dient einem Zweck. Gegenwart passiert bis zu einem gewissen Maße absichtslos, wohingegen Vergangenheit ihren Zweck erfüllt, wenn erinnert wird und Zukunft ihren Zweck dadurch erfüllt, dass sie der Gegenwart jener utopische Ort ist, an welchem der Lohn für das Durchlaufen der Zeit bereitsteht.
Dass, was gerne „Geist“ genannt wird, kann nicht in der Gegenwart leben, denn es verfolgt immer einen Zweck. Die gegenwärtigen, tippenden Bewegungen meiner Finger passieren aus körperlicher Sicht absichtslos, es ist ein Spiel von Bewegung, aber der Geist hat einen Plan, sein Ziel ist auf die Zukunft gerichtet, wo dieser Satz sein Ende in einem Punkt finden wird. Das, was von diesem Satz nicht Bewegung ist, sondern zweckvolle Aussage, kann zurückgenommen werden, das Tippen der Finger in der Zeit nicht. Eine falsche Bewegung tötet den Finger, eine falsche Aussage tötet keinen Geist.
Wenn also der Körper durch die Zweckfreiheit ausgezeichnet wird, ist er das Spiel, sowie der Geist als der Vorsätzliche unvergänglicher Ernst sein muss. Warum aber Ernst und nicht einfach Vorsatz? Ernst, weil kein Sinn nicht erlaubt ist. Ernst ist also immer systematisch, Spiel aber zufällig.
Der Körper ohne den „Rest“ ist aber wie das Foto ohne das Gezeigte. Kein Foto kann nichts zeigen, wie kein Ding unserer Erfahrung nichts bedeuten kann. Und so sind auch Spiel und Ernst wie Körper und Geist, zwei Prinzipien, die sich ausschließen, aber nur zusammen funktionieren. Kein Spiel kann gar nicht ernst sein (nicht „ernst“ mit „tödlich“ verwechseln!), kein Ernst ohne Spiel, weil Bedeutung und Ding nie zusammenfallen und dennoch nie einzeln existieren.
Wird der Zuschauer von einem Film gefangen genommen, spielt sein Körper für einen Zweck, den der Zuschauer nicht selbst bestimmen muss, sondern den der Film vorgibt. Der Ernst des Zuschauers, also sein Bewusstsein, ruht, das Spiel/der Körper des Zuschauers nimmt den Film (als) Ernst. Diesen Idealfall gibt es aber nur in der Theorie. Der Text von LA JETÉE nennt diesen Zustand, wie sich in der Interpretation zeigen wird, „death“.
Genauso kann aber, das andere Extrem, der Ernst des Zuschauers den Film gefangen nehmen, woraufhin der Film den Zweck des Zuschauers erfüllen muss, was nur funktioniert, wenn der Film willkürlich passend gemacht wird (und seine Machart auch diese Möglichkeit bietet). Der Körper spielt nun für seinen eigenen Zweck/Geist und nicht für den eines anderen. LA JETÉE spricht hier von „disappointment“.
Was ich nun suche, wie LA JETÉE selbst auch, ist der Zustand der „madness“, in dem Ernst und Spiel gemeinsam sind.
Gerade zu den Einzelbildern von LA JETÉE wird die Arbeit erkennen, dass sie zwar meist narrativ geordnet sind, also zum Spiel einladen, sprich den Körper des Zuschauers in den Dienst des Filmbewusstseins stellen, genauso aber, durch die Ausstellung der Narration und der Diskrepanz zwischen Bild und Text, Bild in sich und Text in sich, auch zum Ernst auffordern, also das eigene Geschichtenerzählzentrum des Zuschauers aktivieren, der eine weitere, gleichzeitige Narration entwerfen muss. Das Ergebnis ist das wahnsinnige Gedächtnis der „madness“, welches sich ständig umschreibt und doch nie verändert.
1. 7. Die Fahrt vom Triumph zur Zerstörung
Dieser Gliederungspunkt soll an einem ausgewählten Bild exemplarisch verdeutlichen, wie die bisherigen theoretischen Überlegungen zu LA JETÉE anzuwenden bzw. zu ergänzen sind.
Das Bild, welches den Triumphbogen zeigt, ist einer der Momente im Film, in welchem eine Fahrt stattfindet. Dieses Bild zeigt im ersten Moment keine oder kaum Zerstörung – anders als die anderen Bilder dieser Sequenz. Der Triumphbogen als Zeichen des Sieges scheint intakt, genauso wie die im Hintergrund erkennbaren Häuser. Erst der Schwenk nach oben enthüllt die Zerstörung. Allerdings war diese Zerstörung schon immer da, sie formte schon immer Teil des Bildes, zumal die Bewegung des Bildes nicht in der Zeit stattfindet. Stattdessen findet auf einem unbewegten Zeitschnitt eine räumliche Bewegung statt, welche das zuvor außerhalb Kadrierte ins Blickfeld rückt. Es scheint fast, als sei dieses Bild ein Sinnbild für die von Marker immer wieder beschriebene Erinnerung als Narbe (LA JETÉE, SANS SOLEIL), welche sich als Erinnerung erst kundtut, wenn sie als Narbe sichtbar wird – welche nur als Narbe die Zeit überdauert, wohingegen der geliebte Körper (das Symbol des Sieges) verschwindet (vgl. SANS SOLEIL). Warum nun wird die Narbe in diesem Bild über Bewegung ans Tageslicht gezerrt? Ein kurzer Blick auf Einsteins Relativitätstheorie eröffnet ein interessantes Denkfeld hierzu. Neben dem Umstand, dass Einstein die Lichtgeschwindigkeit als eine unveränderliche setzte, für alle sich relativ zueinander bewegenden Beobachter mit konstanter Geschwindigkeit, werden Raum und Zeit relativ und voneinander abhängig, was die berühmte Lorenzkontraktion erklärt und auch zur Zeitdilation führt. Ein Körper bewegt sich also immer sowohl durch die Zeit als auch durch den Raum. Die Bewegungsgeschwindigkeit durch diese beiden Dimensionen ist konstant, die Lichtgeschwindigkeit. Erfolgt nun überhaupt keine Bewegung durch die Zeit, so ist die Bewegungsgeschwindigkeit durch den Raum gleich der Lichtgeschwindigkeit. Das bedeutet, dass dieses sich mit Lichtgeschwindigkeit Bewegende, also das Licht, an und für sich nicht altert. Das Licht kann zwar abgelenkt werden oder absorbiert, aber prinzipiell gibt es für jeden Moment des Kosmos ein an sich unveränderliches Lichtbild, das keinem Werden per se unterworfen ist, sondern lediglich der Interaktion mit anderem Sein. Die Struktur des Lichts also, als ein sich mit der schnellstmöglichen Geschwindigkeit Bewegendem – der nach Einstein einzigen absoluten Größe überhaupt – hat kein Werden, denn es ist absolut.
Im Bild des Triumphbogens ist das Gezeigte des Fotos ein solches, nicht werdendes Lichtbild, wie jedes andere Foto auch. Es ist ein feststehender Zeitschnitt, der sich von selbst nicht verändert, sondern nur durch Interaktion mit Dingen verändert werden kann, die selbst dem Werden unterworfen sind, also nicht diese absolute Geschwindigkeit durch die Zeit besitzen. Diese Dinge sind nun einmal das Materielle des Fotos selbst und zum anderen die Kamera, welche das Foto abfilmt.
Der Raum, den dieses Bild zeigt, wird aufgrund seiner Unveränderlichkeit begehbar wie eine Karte, auf der beim Zurücklegen der Strecke von einem Ort zum anderen zwar Zeit vergeht, aber nur für das Zurücklegen der Strecke, nicht für den Raum/die Karte, welche das Bild zeigt. Und genau dies geschieht mit dem Foto des Triumphbogens. Dabei ist die Fahrt jenes Mittel, welches den Umstand des „Immer-Schon-Da“, des Kartographischen (im Gegensatz zum Werdenden), ins Blickfeld rückt. Die Fahrt selbst dauert, die Karte aber steht in der Zeit.
- Vgl.: Scheeler, Max: Grammatik der Gefühle – Das Emotionale als Grundlage der Ethik, Seite 225-252. ↩
- Dabei spielt es keine Rolle, ob sie der Begriffsdeutung des Erfinders Aristoteles folgen oder doch lieber der Corneilles, Lessings, Herders oder Brechts. In jedem Fall wird die „Gefühlsgebeuteltheit“ nicht zu einem Verweilen in der Illusion des Stückes einladen, sondern den Zuschauer irgendwie verändern – oder in meinen Worten ausgedrückt : den Zuschauer das Erlebte verändert und distanzierter erleben lassen als bei einem immersiven Stück, welches dem Zuschauer keinen Grund gibt, die heile Welt zu verlassen. ↩
- Vgl. erneut die Differenz zu Deleuze, der sich in seinem Buch über Bergson vehement dagegen wehrt. Siehe Anhang – Deleuze und LA JETÉE. ↩