1.2. Der Einfluss der Narration
Was die Wirklichkeit anbelangt, so kann also im Hinblick auf die Bewegung kein tatsächlicher Unterschied zwischen Foto(-film) und Film erkannt werden, aber diegetisch, wie oben bemerkt, eben schon. Ich will dies jedoch nicht „Realitätseindruck“ nennen, sondern versuche, diesen Unterschied anders zu beschreiben.
Der Unterschied, den man nun erkennen kann, ist, dass Foto sich die Narration eher aus außer-fotografischen Kontexten spinnen muss, immer wenn es allein auftaucht. Filmbilder erzählen Geschichten mit weiteren Bildern und tragen so die Bewegung in die Diegese der Bilder. Deswegen wird ein Foto nicht „unbewegt“ oder als Spur der Vergangenheit erlebt: Es trägt Bewegung in den Kontext der Gedanken des Betrachters oder in seine gegenwärtige Umwelt bzw. umgekehrt. So zeigt sich, dass in beiden Fällen die Art der Bewegung eine differenzielle ist und kein Kontinuum. Beim Film ist es vor allem das Zwischen den Bildern, welches die Fiktion des Filmes bewegt, bei Foto vor allem dasjenige zwischen den Gedanken und Erlebnissen des Betrachters, welches eine Geschichte spinnt. Foto wird dabei „mehr vom Betrachter weiterbewegt“, wohingegen viele projizierte Filmbilder „eher den Betrachter weiterbewegen“. Und da die Diegese bei Film stark zwischen den differierenden Bildern aufgespannt wird, die beim Foto aber stärker zwischen Betrachter, Foto und Umwelt, erscheint es verständlich, dass Barthes die Fotografie derart persönlich nimmt und von „Spuren der Vergangenheit“ spricht. Schließlich bezieht das Foto – oder besser das Gezeigte des Fotos, das Bild – seine Kontextualisierung auch stark aus der Vergangenheit des Betrachters. Dies bedeutet nun aber nicht, Foto sei die Spur der Vergangenheit. Es ist lediglich das, woraufhin sich die „Spuren der Vergangenheit“ ausweiten können. Und so kann auch erklärt werden, warum Bewegung im Film meist nicht als Spur der Vergangenheit erlebt wird. Nicht etwa, wie Metz glaubt, weil filmische Bewegung ein wirklich Gegenwärtiges beschreibt, mehr als Foto. Stattdessen bindet die sich zwischen den Filmbildern spannende Fiktion die Vergangenheit (und Zukunft) der Bilder selbst in Form von Bewegung, nicht aber zwangsläufig die Vergangenheit der Zuschauer.
Von „Spur der Vergangenheit“, also dem Gefühl, filmische Bewegung als eine vergangene zu erleben, kann nur dann die Rede sein, wenn ein Bewusstsein seine Vergangenheit in die Bilder (ob bewegt oder unbewegt) fließen lässt.1 Der klassische narrative Film scheint dies aber nicht zuvorderst zu tun, zumindest lässt sich dies nicht von der Machart des Films an sich ableiten. Stattdessen bildet diese Art von Film ein eigenes Bewusstsein, als die Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft – Bindung in Form von sukzessiver, linearer Bewegung. Die Fähigkeit, ein Bewusstsein zu entwickeln, scheint gleich der Fähigkeit, eine Geschichte zu erzählen. Alles, was hierzu notwendig ist, ist genau so viel Erinnerung, um das Davor mit dem Jetzt und dem Danach zu verbinden. Je näher die drei beieinander liegen (und je ähnlicher), desto einfacher entsteht die Geschichte.
Folglich ist die Bewegung nicht das einzige Echte am Film, sondern die Bedingung für eine selbstgenügsame Fiktion, welche ohne fremdes Bewusstsein2 entstehen kann. Dies bedeutet nun nicht, dass Film ohne jede Außenkontextualisierung gesehen wird. Es bedeutet aber, dass Film auch dann noch abläuft und als in sich bewegt/fließend/geschlossen erscheint, wenn er ohne jede Außenkontextualisierung wahrgenommen/abgespielt wird, ganz einfach deswegen, weil sich die bewegten, aufeinander folgenden Bilder durch die Projektion selbst Ähnlichkeits-/Differenzbrücken und somit Narration/Bewusstsein schaffen. Der schiere Ablauf in der Raumzeit ist bereits ein Bewusstsein, und der einer Diashow ist eben weniger ausgeprägt als der von bewegtem Film, weswegen die Fotos mehr Hilfe vom Bewusstsein des Zuschauers in Anspruch nehmen.
- Was ist das Erlebnis von Vergangenheit? Am ehesten wohl die Erinnerung, aber selbst diese wird ja aktualisiert. Folglich ist Vergangenes ein Differentes zum Gegenwärtigen. Das Erlebnis des Vergangenen erfordert die Koexistenz des gegenwärtigen Zuschauers/Umwelt, welcher seine eigene, vom vergangenen Ding differente Zeit besitzt. Im Film existiert das vergangene Bild nicht mit dem präsenten. Von „Vergangenheit im Film“ kann also nur dann die Rede sein, wenn Filmbilder sich mit dem Außen kontextualisieren, was dann meist ein Gedächtnis (kollektiv oder individuell) ist. Was da kontextualisiert wird, ist aber nicht Bewegung an sich, sondern Wert. Somit wird Bewegung, als die Bedingung der Narration, nie als vergangene empfunden (wie das Erzählen auch immer gegenwärtig ist), sondern bestenfalls das, was sie transportiert. ↩
- Bewusstsein wird in dieser Arbeit eher gefasst als ein Geschichtenerzählzentrum, also als dasjenige, welches die Elemente verbindet. Es macht die Narration und ist wie Bergson`s durée (nicht nach Deleuze interpretiert) zwangsläufig linear. Es ist vor allem die Struktur der Verbindung von Dingen und Ereignissen. ↩