Anhang – Märchen
Folgendes spricht vom „Kunstmärchen“ eines Verfassers, nicht vom „Volksmärchen“, welches dem Mythos näher steht.
Nach dem Brockhaus Literatur „Hatte bereits Goethe in „Das Märchen“ (1795) der Gattung die Aufgabe des allegorisch-symbolischen Diskurses über die Veränderung der Weltumstände zugewiesen…“.1
Als allegorisch-symbolischer Diskurs trennt sich das Märchen ab vom Realismus, behält sich aber gleichzeitig das Recht vor, die Welt zu kommentieren. In diesem Sinne gesehen, ist das Märchen eine Narration, welche sich als solche zu erkennen gibt und nicht Politik sein will, gleichzeitig aber durch die „scharfe Konturierung der Protagonisten, die nicht als Individuen, sondern als Typen gestaltet sind“2 sehr wohl, vgl. die Fabel, ideale Werte propagiert.
Ein märchenhafter Protagonist ist rein und frei vom menschlichen Makel, es sei denn dieser Makel sei Teil seines Diskurses, was aber auch den Makel wiederum als reinen hervortreten lässt. Er ist kein Mensch, sondern ein Idealtyp, eine vollkommene Verkörperung eines Ideals. Folgerichtig wird sein Handeln und die Welt, in der er agiert, als Extrapolierung dieses idealen Gestus, schnell fantastisch und widersetzt sich den uns bekannten Gesetzen der Natur.
Nun wird aber immer wieder das Märchen als etwas anderes ausgelegt. Stellt es sich nicht mehr als Narration aus, verliert der allegorisch-symbolische Charakter an Bedeutung. Was übrig bleibt, ist dogmatische Handlungsanleitung. Angenommen, die Bibel sei vergleichbar einem Märchen. Die Auslegung der Bibel und ihr Stellenwert in der katholischen Kirche lassen dies jedoch nicht erkennen. Fantastische Begebenheiten dieser Schrift, also Wunder, werden als solche gefasst, auch wenn sie unserer Natur widersprechen. Genauso widerspricht das ideale, archetypische Verhalten der Protagonisten der Bibel der menschlichen Natur, oder besser der Wirklichkeit. Wird dies jedoch für bare Münze genommen, so kann dieses Buch als (unerreichbare) Handlungsanleitung für die Welt gesehen werden.
Schlimmer noch, wenn die Wunder der Bibel relativiert werden. Das geteilte Meer zum Beispiel erhält eine teilweise Nachweisbarkeit in der Wissenschaft. Dadurch wird das Fantastische mit dem Realen akkumuliert, es bleibt aber immer noch der rein theoretische Archetyp des brav handelnden Christen übrig. Wieder wird die Bibel nicht als Märchen erkannt, bestenfalls als Übertreibung, und jeglichem Fanatismus wird Tür und Tor geöffnet, denn nun heißt es, diesem unmöglichen Ideal (Typ, nicht Individuum) umso mehr nachzueifern, zumal wir doch in derselben Welt zu leben scheinen.
Bleibt aber die Bibel Märchen, so bleiben auch die Wunder, aber nur im Traum, und auch der ideale Mensch überlebt, aber nur in der Theorie der fantastischen Welt des Märchens. Und das Märchen selbst erhält so den Stellenwert des allegorisch-symbolischen Kommentars der Welt und wird nicht zum Dogma. Dass das Märchen nun Märchen bleiben darf, erfordert seine eigene Ausstellung als Märchen. Wie eben gezeigt, genügt es heutzutage scheinbar keinesfalls, mit Fantastischem und Wundern aufzuwarten, um dies zu untermauern. Tausende sprengen sich ins Paradies, Abertausende kasteien sich und ihre Freiheit für den genauso fanatischen Glauben an Sicherheit. Das Märchen muss mehr tun, um Märchen zu bleiben. Es muss seinen märchenhaften Charakter selbst ausstellen und immerfort darauf hinweisen. Es braucht einen Erzähler, eine Formel („Es war einmal…“) und Leerstellen für die Fantasie. Man darf sich im Märchen nicht verlieren dürfen wie in der Realität – erst wenn man das Märchen selbst zum Märchen macht, hat es als solches Bestand, als Kommentar, als Abstoßungspunkt zur Realität.
LA JETÉE ist ein Fiction (Erzählung einer Geschichte) – Fiction (die Geschichte der Zeitreise) – Film, man könnte auch sagen, ein Märchen. Auf famose Art weist dieser Film all jene in die Schranken, die noch heute im Foto die Spur der Vergangenheit oder Realität erkennen wollen. Marker verwendet gerade Fotos für Wunder, lässt den Erzähler nie verschwinden und schafft Fragmente und Leerstellen, die dem Zuschauer entgegen schreien: „Glaub mir, ich bin ein Traum, darum glaub mir nicht!“
Auch Freud hat das Märchen entdeckt, doch Freud spannte das Traumhafte vor seinen allzu simplen, dogmatischen Karren der Psychoanalyse. Marker aber entfesselt das Märchen neu. Sein idealer Held bleibt Traumtänzer.
Zwar kann der Film so gedeutet werden, dass der Junge am Flughafen mit seiner Mutter war, als sein Vater starb, beim Ausbruch des dritten Weltkrieges. Später, in seiner Gefangenschaft, bricht seine Obsession zur Mutter durch, die er sich in seinen Gedanken zur Geliebten nimmt, was ihm das Augenlicht und schließlich das Leben kostet. Aber selbst wenn LA JETÉE als Anspielung auf den Ödipuskomplex gedeutet wird, so ist die Art, wie er sich dem Zuschauer präsentiert, immer noch eine Ausstellung des Geschichtenerzählens, und diese Deutung würde dann eher zur Parodie als zur Bestätigung der Psychoanalyse führen.