Wachsein im Traum – Theoretische Überlegungen, Analyse und Interpretation von Chris Markers LA JETÉE

1.4. Erfahrung von Vergangenheit und Vergangenem

 

Was wird als vergangen erlebt? Dabei ist „erlebt“ hier schon falsch verwendet, denn Erfahrung bezieht sich immer zwangsläufig auf die Gegenwart. Deswegen ist das Vergangene eine Konstruktion, die sich von der Gegenwart der Erfahrung abgrenzt. Es handelt sich also um ein Etwas, welches die gleichzeitige Koexistenz des gewesenen Etwas mit der Gegenwart der Erfahrung beschreibt.1 Dies trifft auf eine Erinnerung nur fast zu, denn um Erinnerung zu werden, muss die Vergangenheit aktualisiert werden, was eine Art Vergegenwärtigung der Vergangenheit darstellt und somit nicht mehr vergangen ist.2

Das wirklich Vergangene ist also nur jenes, welches in der Vergangenheit (in seiner Zeit) bleibt, während es eine Verbindung zur Gegenwärtigkeit der Erfahrung herstellt. Dies erfordert, dass das Bewusstsein3 in der Gegenwart verschieden ist von dem Bewusstsein des Vergangenen. Das eine darf das andere nicht aktualisieren können.

Betrachtet ein Mensch ein Foto, so wird, um das Gezeigte zu verstehen/erfahren, Erinnerung oder Umwelt, Weltwissen etc. involviert. Diese Erinnerung ist nicht das Vergangene, sondern aktualisierte Vergangenheit. Es handelt sich also um etwas Gegenwärtiges, wie auch die Umwelt gegenwärtig ist. Das Foto selbst ist ebenfalls gegenwärtig, das Gezeigte existiert nun aber eigentlich gar nicht, sondern nur als Vermengung der von ihm ausgehenden Sinnesreize und der Erinnerung des Betrachters.4 Die für die Konstitution des Gezeigten vom Foto ausgehenden Sinnesreize sind verschieden von seiner bloßen Materialität. Zwar handelt es sich beide Male um das gleiche Ding mit der gleichen Form und Struktur, aber einmal nimmt es Bezug auf die aktuelle Welt – als Foto hat es Widerstand, Volumen, Masse usw. -, das andere Mal auf die virtuelle Welt: Linien, Formen und Kontraste suchen die Verbindung zum Virtuellen, zur Erinnerung. Das, was nun das „Vergangene“ genannt werden kann, ist jener Teil der unveränderlichen Sinnesreize des Gezeigten im Kontext der Vermengung von Wahrnehmung und Erinnerung, den das Bild im Betrachter hervorruft. Ohne diesen Kontext der Vermengung bleibt lediglich der materielle Wert des Fotos übrig (reine Wahrnehmung). Aus diesem Kontext ergibt sich das, was im Betrachter vom Foto erfahren wird – das Gezeigte. Und in diesem Kontext stehen sich die veränderliche Erinnerung und unveränderliche Sinnesreize eines Außen gegenüber. Und genau deswegen kann nun vom Vergangenen die Rede sein, denn die gegenwärtige Materialität des Fotos allein vermag das Gezeigte gar nicht erfahrbar zu machen und die tatsächliche Erfahrung des Gezeigten ignoriert die Materialität des Fotos vollkommen, aber im Kontext der Erinnerung und der Sinnesreize bleiben Letztere in einer eigenen Zeit, die nicht die Gegenwart der bloßen Materialität des Fotos ist, denn sie stehen in keinem Bezug zur aktuellen Welt, und auch nicht die zur Gegenwart gewordene Vergangenheit der Erinnerung, sondern das Vergangene selbst, welches als solches unerfahrbar bleibt, genau deswegen, weil es nicht veränderbar ist. Es ist das Virtuelle aller Dinge. Es ist nicht vergangen, weil es auf die Gegenwart folgt – es existiert gleichzeitig mit ihr -, sondern weil es der Erfahrung unzugänglich ist und folglich von der Gegenwart nicht verändert werden kann – es wird nicht.

Dazu ist es nicht nötig, erst den Umweg über ein Foto zu gehen. Jeder betrachtete Gegenstand hat seine Materialität und seine Bedeutung. Zieht man aus der Bedeutung jenen Teil der Erinnerung ab, bleibt das Vergangene übrig, welches nicht die Materialität und nicht die Bedeutung ist. Dieses virtuelle Vergangene ist ein für den Erinnerungsprozess notwendiger Bestandteil, wenngleich es als eine unveränderliche Struktur immer unverstanden bleibt, also dem die Geschichte konstruierenden Bewusstsein fremd bleibt, obwohl es doch Teil dieses Geschichtenerzählens ist.5 Das Vergangene ist immer das, was nicht verstanden wird vom Bewusstsein und sich je mehr bemerkbar macht, je schwieriger es das Bewusstsein hat, das Betrachtete zu narrativieren. Später wird sich zeigen, dass mit dem Vergangenen auf zweierlei Weise verfahren werden kann: Entweder es wird umschifft, dann wird das Unverständliche auf eine eher ignorante Art und Weise verständlich gemacht, oder es bleibt unverständlich, dann verliert sich das Bewusstsein selbst im Vergangenen (Bewusstsein) des Betrachteten.

Dadurch, dass das Vergangene für das erfahrende Bewusstsein unveränderlich ist, erhält es seine eigene Zeit und kann deswegen mit dem erfahrenden Bewusstsein koexistieren, und zwar gleichzeitig.

Der Unterschied zwischen dem Vergangenen und der Vergangenheit ist, dass Letztere veränderlich ist, beschreibt sie doch die Sphäre des Zugriffs eines erfahrenden Bewusstseins, wohingegen das Vergangene die Vergangenheit eines anderen Bewusstseins bzw. das andere Bewusstsein selbst ist, welches nicht verändert werden kann. Die Vergangenheit wird also nie als Vergangenes, nie als vergangen erfahren, sie wird immer aktualisiert. Das Vergangene kann nun als vergangen „erkannt“ werden, bleibt aber jedem Zugriff der Aktualisierung fern. Somit ist das Vergangene das nicht erfahrbare, nicht verstehbare Andere und es geht eine unheimliche Verbindung ein mit der eigenen Vergangenheit, die zwar erfahrbar ist, aber nie als das, was sie ist, sondern immer nur als deren Aktualisierung. Deswegen ist unsere wirkliche Vergangenheit nicht unsere erfahrbare, aktualisierte Vergangenheit sondern das vergangene Andere, welches nie erfahrbar und verstehbar ist, aber als DAS doch erkannt werden kann und uns den einzig möglichen Blick in unsere Vergangenheit offenbart – wenngleich wir ihn nicht verstehen können. Mit verständlichen Worten bedeutet dies, dass jeder Mensch/jedes Bewusstsein sein Vergangenes in einem anderen Bewusstsein hat, denn sein eigenes Bewusstsein ist immer nur punktuell, zentriert und gegenwärtig, ist doch die Aufgabe des Bewusstseins, Gegenwart und Perspektive zu konstruieren. Die Vorstellung, die eigene Vergangenheit im Bewusstsein des Anderen zu sehen, wird dadurch erleichtert, dass auch die Vergangenheit „nur“ eine Geschichte ist und Menschen/Bewusstseins nichts anderes sind als Geschichtenerzählzentren, das Leben nichts anderes als Bewegung bzw. Kommunikation. Dabei bedeutet „vergangen“ nicht mehr zeitlich betrachtet vorhergehend, es bedeutet vielmehr anders, nicht veränderbar, nicht begreifbar. Die Geschichte des Vergangenen ist als nicht Gegenwärtiges auch die Geschichte des Perspektivverlusts und deswegen zwangsläufig unbegreifbar für jedes Bewusstsein.

Nun zu Film. Technisch gesehen ist Film eine Vervielfachung des oben beschrieben Prozesses und müsste somit eigentlich genauso das Vergangene zum Vorschein bringen wie ein Foto. In den vorigen Absätzen wurde aber bereits festgestellt, dass bewegter Film seine Kontextualisierung eher oder zumindest zu einem hohen Grad über den Zusammenschluss der Bilder zum Fließen bezieht, wobei ein Bild im Kontext steht zum Vorigen und Nachfolgenden usw. Und in diesem Kontext besteht nun keine gleichzeitige Koexistenz zweier Bilder. Die Machart des Films als 24 Bilder pro Sekunde also führt nicht dazu, dass das eine Bild sich vom anderen als Vergangenes abgrenzen könnte, sondern sie betreten sukzessive die Bühne. Untereinander beschreiben die Bilder, die im Zusammenhalt durchaus als Bewusstsein beschrieben werden könnten, zumal die Vorführung die Struktur der Verknüpfung zu den anderen Bildern vorgibt, also kein Vergangenes, was ohnehin sinnlos zu erörtern wäre, zumal Zuschauer die Einzelbilder gar nicht wahrnehmen können.6 Dies wird daher nur für alle jene bemerkt, die epistemologische Unterstellungen aus der Technik des Films herausdestillieren wollen.

Allerdings hat auch Film einen Betrachter, ein erfahrendes Bewusstsein, und eben ein Gezeigtes. Und das Gezeigte ist für den Betrachter ein zusammengeschmolzenes, sich bewegendes Bild. Und als solches ergibt sich die gleiche Konstellation wie für das Foto oder jedes andere Ding der Wahrnehmung auch. Es koexistiert ein erfahrendes Bewusstsein mit einem anderen Bewusstsein, nämlich dem des Gezeigten als Ganzem, unabhängig davon, ob es sich aus Einzelteilen ergibt oder nicht, zumal dies ohnehin nicht wahrnehmbar ist. Also ist das Vergangene auch als ein zwischen Zuschauer und Film entstehendes Phänomen im Kino anzutreffen. Dennoch kommt es bei Film weniger deutlich zu Geltung als bei Foto(-film). Dies rührt daher, dass klassische, narrative Filme Geschichten vorgeben, die sich aus den bewegten Bildern (oder der Abfolge der unbewegten Bilder) bereits „fast“ vollständig ergeben. Je mehr ein Film aber die Geschichte blockiert, desto eher ist der Zuschauer gezwungen, seine Narration selbst fortzuführen, also sein Bewusstsein aktiv in den Narrationsprozess einzuschalten. Das Vergangene als Unverständliches ist dabei selbst die Blockierung. Demzufolge tritt die Koexistenz zweier Bewusstseins deutlicher in Erscheinung und folglich kann auch im oder am bewegten Film das virtuelle Vergangene erkannt werden. Entscheidend ist die spürbare Koexistenz zweier Sphären, die beide in der Lage sind, eine Narration zu konstruieren und genau deswegen gegen die Immersion in nur eine Sphäre rebellieren. Nur eine Sphäre erzeugt immer das Gefühl des Gegenwärtigen und Präsenten7, wobei das Bewusstsein des Zuschauers ausgeblendet, wenn nicht sogar „entführt“ wird. Bei einem Fotofilm ist diese Gefahr von vornherein schon minimiert – wenngleich nicht ausgeschaltet – da das Vergangene im Foto ständig das Bewusstsein des Zuschauers herausfordert und auffordert, sowohl die Leerstellen zwischen Fotos zu erkennen, als auch sie zu füllen, also das Unveränderliche anzuerkennen und gleichzeitig durch eine eigene Narration zu umschiffen.

  1. Bei Metz/Barthes wäre das gewesene Etwas die Vergangenheit. Diese hinterließ Spuren auf einem Etwas, dem Foto. Auf die Probleme der Indexikalität von Bildern ist in der Filmwissenschaft schon häufig eingegangen worden, weswegen ich, für die meines Erachtens sinnvollsten Argumente gegen die Indexikalität, auf einen Text von Simmons verweisen möchte:

    Simmons, Jan: What’s a digital image?

  2. Vergleiche die Ähnlichkeit zu Deleuzes Kristallbild: „Demgegenüber bestimmt sich das im reinen Zustand befindliche virtuelle Bild nicht aufgrund einer neuen Gegenwart, in Bezug auf die es (relativ) vergangen wäre, sondern aufgrund der aktuellen Gegenwart, deren Vergangenheit es absolut und simultan ist: als besonderes hat es dennoch eine „Vergangenheit überhaupt“, insofern es noch keine zeitliche Fixierung erfahren hat. Als eine Virtualität muß es sich nicht aktualisieren, da es voll und ganz mit dem aktuellen Bild korrelativ ist, mit dem es den kleinsten Kreislauf bildet, der als Basis oder Spitze für alle anderen dient. Es handelt sich um ein virtuelles Bild, das einem derartigen aktuellen Bild korrespondiert, anstatt sich zu aktualisieren oder sich in einem anderen aktuellen Bild aktualisieren zu müssen. Dabei ist ein aktuell-virtueller Kreislauf auf der Stelle, nicht aber eine Aktualisierung des Virtuellen aufgrund eines durch Verschiebung betroffenen Aktuellen. Es ist ein Kristallbild, nicht aber ein organisches Bild.“ Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild, Seite 109f. Wie Deleuze erfordert mein Vergangenes, dass es nicht aktualisiert (vergegenwärtigt) wird und die gleichzeitige Koexistenz zu einer anderen Zeit/Sphäre, was hier „virtuell-aktueller Kreislauf“ heißt.
  3. Zur Erinnerung: Bewusstsein ist die Struktur der Verbindung von Dingen und Ereignissen. Würde eine Struktur die andere aktualisieren, würde sie sie auslöschen.
  4. Vgl.: Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis, Seite 61: „Das Gedächtnis nämlich, das in der Praxis nicht von der Wahrnehmung zu trennen ist, schaltet Vergangenes in das Gegenwärtige ein, zieht viele Momente der Dauer in eine einzige Schauung zusammen…“. Allerdings ist das „Vergangene“ Bergsons nicht mit dem hier beschriebenen Vergangenen deckungsgleich, was an dieser Stelle jedoch irrelevant ist.
  5. Was ich das „Vergangene“, oder das „Virtuelle der Dinge“ nenne, ist nicht das Virtuelle selbst, sondern einer von unendlich vielen Schlüsseln, der in das Schloss der Virtualität passt, die selbst das Ganze und Absolute ist (vgl. die Differenz zu Deleuze, der das Ganze als Virtuelles und Aktuelles zusammen in der alles vereinigenden Zeit sieht). Dieser Schlüssel jedoch schließt nur eine Perspektive auf, eine Variante des Ganzen. Es ist der Berührungspunkt zwischen Aktuellem und Virtuellem, denn obwohl sich das Vergangene nicht auf die Aktualität bezieht, wird es von ihr konstituiert. Jeder dieser Schlüssel ist einzigartig, was durch zwei Faktoren gewährleistet wird: die Organisation und die raumzeitliche Verortung. Organisation allein kann exakt kopiert werden, sogar mit dem gleichen Material, sogar zur gleichen Zeit, zumal Gleichzeitigkeit laut Einstein relativ ist. Sie kann aber niemals zur gleichen Raumzeit kopiert werden, d.h. eine Organisation in einer raumzeitlichen Verortung ist zwingend einzigartig. Dies ist notwendig, da sonst der Unterschied zwischen dem Aktuellen und dem Virtuellen, die Ausdifferenzierung, also der Unterschied zwischen dem Ganzen und den Teilen, verloren ginge.
  6. Noch einmal: Auch für Menschen völlig zusammenhangslose Bilder sind durch die Art ihrer sukzessiven Verknüpfung ein Bewusstsein.
  7. Hierzu mehr unter „Der Zwischenraum der Gegenwart“.
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