Wachsein im Traum – Theoretische Überlegungen, Analyse und Interpretation von Chris Markers LA JETÉE

2.1.1.1. Deutung

Das Auffälligste im Hinblick auf die Zeiten ist der ständige Wechsel von Vergangenheit und Gegenwart, die verschiedenen Stadien der Narration betreffend. Außerdem auffällig ist, dass die Gegenwart der Erzählung/des Erzählers vielenorts bewusst betont wird und darüber hinaus mit der Position des Protagonisten zusammenzufallen scheint, dergestalt, dass beide aus ihrer Gegenwart in eine andere Zeit zu blicken scheinen, welche gleichzeitig als Vergangenheit und als Zukunft gedeutet werden kann und synchron zur Gegenwart existiert. Dabei blicken die beiden von der Gegenwart des ersten und letzten Bildes aus (die Szenen am Flughafen), die unentrinnbar ist, auch deshalb, weil das erste Bild schon das Ende der Geschichte vorgibt und deswegen nie vergeht. Fast scheint es, als sei die nötige Voraussetzung des Geschichtenerzählens diese gegenwärtige Perspektive, welche nie abgelegt werden kann. Denn erst hier kann von Erzählen die Rede sein und nicht von Durchleben oder Durchmachen. Etwas bleibt immer an diesen gegenwärtigen Punkt gebunden, wird nicht auf die Reise geschickt, bleibt an einem Ort oder Bild, das immer durch jede erzählte Zeit durchschimmern wird, als obsessives Bild. Nur so kann eine Geschichte erzählt werden, mit dieser Perspektive. Dies bedeutet, dass der Umstand und Standpunkt des Geschichtenerzählens, der nichts anderes ist als eine fixe Gegenwart wie z.B. die (technische) Umwelt im Kino oder die Erinnerungen der Zuschauer (als aktualisierte Vergangenheit sind sie Gegenwart) oder die „Zeit“ des Erzählers (egal ob auktorial,  Ich-Erzähler, Personaler Erzähler usw.), nicht aus der Geschichte und nicht aus dem Erzählen selbst hinaus zu dividieren sind. Sie sind konstitutiver Teil der Geschichte oder gar die Geschichte selbst. LA JETÉE stellt diesen Umstand aus und bestärkt somit auch in der textlichen Erzählung, wie Fotos das im Verhältnis zum bewegten Film tun, die Aktivierung des Zuschauers/-hörers und das Wirklichkeitserlebnis. Dem Zuschauer/-hörer wird nicht immer erlaubt, sich treiben zu lassen, denn immer wieder konstituieren sich verschiedene Zeiten, die ein bloßes Erleben des Textes unterbinden und dazu auffordern, sich von der Immersion zu distanzieren und interaktiv mitzudenken, was da eigentlich gerade erzählt wird. Mit den immer wieder auftauchenden Paradoxien dieses Textes ist das keine leichte Aufgabe. Da nun aber Geschichtenerzähler und Protagonist oft die gleiche Perspektive teilen, fällt dieser interaktive Part des Zuschauers nicht in die Fiktion (er kann sich nicht aussuchen, was der Mann tun soll), sondern auf die Konstruktion der Fiktion, symbolisiert durch den Erzähler. Deswegen wird die Fiktion nicht geschwächt, sondern eher gestärkt, denn diese Art der interaktiven Begegnung mit den Bildern/Worten kommt dem tatsächlichen in der Welt sein sehr nahe, wo auch stetig versucht wird, das Sein zu verstehen, indem es narrativiert wird. Das Zusammenfallen von Protagonist und Erzähler in Abgrenzung zu einer anderen Zeit, der der Handlung nämlich, erzeugt erst die Selbstreferentialität, welche Ernst und Spiel vereint: Wären die beiden Eins ohne eine andere Zeit, könnte von „Spiel“ die Rede sein, der Zuschauer kann sich mit nur einem identifizieren bzw. wird identifiziert. Sind die beiden getrennt, so kann von „Ernst“ die Rede sein, denn der Zuschauer kreiert seine Geschichte zwischen den beiden. Erst wenn sie zusammenfallen und sich doch von der Geschichte abtrennen, entsteht diese verrückte Selbstreferentialität, die das Geschichtenerzählen ausstellt.

Da der Text nun einen Film begleitet und der Film in einem dunklen Kino konsumiert wird, kann die immer wieder betonte Gegenwart des Erzählers nicht mit der gegenwärtigen Umwelt des Zuschauers zusammenfallen. Der Zuschauer teilt also nicht die Situation wie in einer wirklichen Erzählung mit Redner und Zuhörer und Umwelt. Aber durch die Art dieser literarischen Erzählung Markers gerät er auch nicht in Versuchung zu vergessen, dass es sich um eine Erzählung handelt. Somit mag die echte Umwelt vielleicht ausgeblendet sein, doch innerhalb der Konzentration auf den Film findet der Zuschauer nun auch auf textlicher Ebene wieder einen deutlichen Anhaltspunkt, sich des erzählerischen Charakters des Erlebten bewusst zu werden und es nicht einfach mitzuerleben. Mehr hierzu unter dem Punkt „Der  Zwischenraum der Gegenwart“.

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