3.2. Der Moment auf dem Bett als Anfang des Films
Vorerst mag es befremdlich und konstruiert erscheinen, aus geometrischen Überlegungen heraus den Anfang von LA JETÉE im Moment auf dem Bett, also eigentlich mitten im Film, anzusetzen. Jedoch lässt sich auch so eine Geschichte konstruieren. Dazu muss angemerkt werden, dass dieses Laufen – Lernen der Bilder vom Anfang bis zu dem Moment dauert, an dem die Szene gezeigt wird, was der nächste und übernächste Gliederungspunkt näher erläutern wird.
Eine Frau liegt in ihrem Bett, noch schlafend. Im Erwachen blinzelt sie in die Kamera. Was ist die Kamera? Die Kamera kann jeder Betrachter sein, auch ein Mensch, auch der Mann. Menschen nehmen, von technischer Seite aus betrachtet, Bilder ähnlich auf wie eine Kamera, was auch über lange Jahre der Grund für viele Realismusdebatten war, siehe Bazin. Also ist die Situation folgende: Der Mann und die Frau sind im Bett. Sie schläft, er wacht und beobachtet sie. Während sie schläft, zeigt uns der Film die Frau in Einzelbildern. Für den Mann ist sie so lange mysteriös, solange sie auch aus dem besteht, was Freud das „Ding“ nennt, den unverkostbaren Anteil des Nebenmenschen. Die Einzelbilder der Frau sind verkostbar, verständlich und auch greifbar, aber die Bewegung hierzu stammt vom Mann, es ist seine Narration, in deren Dienst er die unveränderlichen Bilder stellt. Das unveränderliche (unbewegte) Ding aber bleibt ihm fremd, solange sie dieses eigenständige andere Wesen darstellt, das schläft, sich nicht selbst bewegt und somit wie (der virtuelle Teil des Gezeigten/das Vergangene) ein(es) Foto(s) ist. Sie ist die Andere und das Verkosten vom Mann kann sie nicht vollständig (den unbewegten Teil des Dings, den Rest) zum Eigenen machen. Die Andere ist dennoch (vgl. Waldenfels) immer auch Teil des eigenen (Un-)Heimlichen und folglich, ohne hiermit zu sehr psychoanalytische Assoziationen hervorzurufen, von Interesse. Allein schon einen Menschen derart nah und intim zu filmen/beobachten, wie es diese Einstellung tut, deutet dieses Begehren an, wobei Begehren auch schlichtweg Neugier und Verständnisdrang bedeutet. Der Mann versucht also, diese Frau zu verstehen oder zu begreifen (ein Begreifen, das über das normale Greifen hinausgeht), versucht damit aber gleichzeitig, auch sein Interesse an ihr zu begreifen, was dieser Drang nach Verständnis ist. Das bedeutet nun ebenfalls, zumal die Andere nie eine vollkommen Andere sein kann, was sie aus der Sphäre des Erfahrbaren rücken würde, einen Teil seiner Selbst zu verstehen. Kurz gesagt, versucht er gleichzeitig, sie zu verstehen, um damit zu verstehen, warum sie ihn interessiert und dadurch zu verstehen, wer er ist, der sich für sie interessiert. Banal ausgedrückt müsste es für diesen speziellen Fall heißen: Er ist verliebt und ihm schwindelt. Es ist genau jener Moment der Kontemplation eines Verliebten, in welchem versucht wird, den Moment des innigen Glücks festzuhalten, wie auf einem Foto.
Und gerade Chris Marker ist ja bekannt für seinen berühmten Versuch, Glück auf Bildern festzuhalten, in SANS SOLEIL nämlich. Dort verbindet ein imaginierter Filmemacher (SR!) das Glück mit den laufenden Bildern von Kindern in Island. Doch der Erfolg dieses Unterfangens scheint zweifelhaft, weswegen Markers imaginierter Filmemacher, sollte er den Film je drehen, genau dieser Szene Schwarzband folgen lassen will, wie es SANS SOLEIL dann auch macht – denn sollten sie nicht das Glück gesehen haben, so haben sie wenigstens das Schwarz gesehen. Das Glück als solches bleibt unfassbar, deswegen wird es über den Umweg zu fassen gesucht, nämlich in der Differenz zu jenem Stück Schwarzband, welches dann immerhin schon dessen relative Abwesenheit konstatiert. Und über den noch weiteren Umweg des imaginierten Filmemachers, denn so erfährt der Zuschauer ja auch erst, dass es das Glück ist, welchem hier nachgespürt werden soll. Glück an sich auf einem Bild festzuhalten ist ein Versuch, den Marker ohne Netz und doppelten Boden scheinbar gar nicht erst angehen würde. So scheint es zweifelhaft, dass er überhaupt glaubt, das Glück selbst jemals im Film fassen zu können.
Dem gleichen Problem begegnet der Mann in LA JETÉE in dem Moment, als er die schlafende Frau beobachtet. Der Versuch, den Moment des Glücks festzuhalten, bedeutet für ihn, das unfassbare andere Wesen ganz begreifbar zu machen ohne es nur zu greifen und gleichzeitig sich selbst zu verstehen. Als Foto, also als schlafende Frau, bleibt seine Beobachtung und Messung aber immer außen vor. Das Bild ist und bleibt unveränderlich (behält seinen Rest), so kann er sie verkosten und fassen, aber das Ding, das Unbewegte bleibt ihm fremd und die Bewegung, die er versteht, ist nur die seiner eigenen Narration, die er zwischen den unveränderlichen Bildern spannt. Die Lösung ist das Laufen der Bilder. Für einen Moment entsteht die Illusion des bewegten Bildes. Das bewegte Bild ist scheinbar ein veränderliches Bild, es inter-agiert scheinbar mit der Penetration der Beobachtung durch seine eigene Bewegung. Doch was passiert wirklich? – Der Mann verliert seine eigene Perspektive (Beobachtung), seine eigene Narration, ja sich selbst, und wird zur Anderen. Nun wird er verkostet, aber das Glück kann er so wieder nicht fassen, hat er nun doch sein Eigenes verloren. Und auch das „Die-Andere-Sein“ besteht nur scheinbar aus veränderlichen Bildern, letztendlich sind auch dies unveränderliche Einzelbilder, die lediglich aufgrund ihrer Geschwindigkeit seiner narrativen Kontrolle entkommen – wodurch er sich selbst entkommt. Die Bewegung ist nicht im Bild, sondern dazwischen. Was dazwischen entsteht, ist eine Narration, die erst er selbst spann, die nun aber von selbst gesponnen wird, die aber so oder so auf denkbar ignorante Art und Weise das jeweils Andere einfach ausklammert, das Ding nie erfassen kann. Die Narration beschreibt eine fiktive Welt, aber ohne die Fiktion sind wir nicht in der Lage zu verstehen oder verstanden zu werden, wobei das eine wie das andere nie vollständig sein kann, es bleibt immer ein „Ding“ zurück. In dem Moment also, wo sie erwacht, wo sie zur Illusion der Bewegung wird, verliert er sich ganz und wird selbst zu ihrem Ding. Davor und danach aber bleibt sie als Ding außen vor und er fällt zurück auf eine nach außen verlagerte Selbstbeobachtung, die alles und jeden in seiner Umwelt mit einer Narration überzieht und ihn von den Dingen genauso entfernt, wie sie alles greifbar macht. Die erhoffte Befriedigung des Dranges, die Andere zu erfassen, endet in einer Selbstbefriedigung oder in einer Selbstaufgabe. Der kontemplative Moment des Verliebten, der Versuch sein Glück zu fassen, endet ganz zuletzt in der Erkenntnis, dass es nicht fassbar ist. Alles, was dieses Glück in ihm hervorrief, war das Unverständnis und das Mysterium der Anderen.1 Das Glück selbst scheint dieses Unverständnis zu sein.
- Die obigen Beschreibungen des Mannes, der Frau und der Liebe zwischen den beiden trägt der Erzählung von LA JETÉE Rechnung. Prinzipiell könnte diese Situation aber auch als nüchternere Versuchsanordnung beschrieben werden. Es ist der Versuch, Bewegung als Dauer, als Kontinuum zu fassen, zu beobachten. Alles, was hierzu vonnöten ist, ist ein Beobachter, Dauer (vielleicht etwas, das dauert?) und Raum, in oder durch welchen all dies stattfindet. Liebe wäre also hier nichts anderes als der Versuch der Beobachtung, besser gesagt einer Art von Interaktion oder Kommunikation, die selbst nichts anderes ist als eine Bewegung oder eben das Leben selbst. Solch eine Versuchsanordnung beschreibt z.B. das Delayed-Choice-Experiment, wie Sie es im Anhang – Interferometer (Seite 124) – beschrieben finden. Dort wird ebenfalls festgestellt, dass Glück (Wellen) nicht messbar ist. ↩