Wachsein im Traum – Theoretische Überlegungen, Analyse und Interpretation von Chris Markers LA JETÉE

3.3. Die Büchse der Pandora lässt sich nicht schließen

Der Mann sitzt also auf dem Bett, immer noch versuchend, die Andere zu fassen. Noch sind die Bilder nicht zum Leben erwacht. Dieser Moment wird gedehnt und der ganze erste Teil von La JETÉE, bis die Bilder laufen, beschreibt nichts anderes als diesen gedehnten Moment.

Da, wo der eigentliche Film also anfängt, nämlich am Flughafen, fängt dieser gedehnte Moment an, der den Mann in seinem Versuch, die Frau zu begreifen, beschreibt. Das ist der Ort, an dem er sie kennen lernte und an den seine Gedanken als erstes zurückkehrten, beim Versuch, sie zu verstehen. Folgerichtig ist er an diesem Ort der unbekümmerte Junge, der sein Glück noch besitzt. Da er in Erinnerungen schwelgt, findet der Film wie eine Diashow statt. Die einzelnen Bilder sind nicht veränderbar, wohl aber der Kontext, in welchem sie erinnert werden und vor allem die narrative Reihenfolge, in welche sie gebracht werden (vgl. die in der Analyse erkannte Rückblende, welche ebenso verfährt). Aber schon während er sie und seine Liebe zu ihr bei diesem ersten Treffen zu ergründen versucht, bahnt sich das Unausweichliche an. Wie ein Schatten hängt ein unbeschreibliches Ereignis über der Szenerie, das er nicht versteht, noch nicht begreift, sondern erst sehr viel später. Sie wird ihm entzogen. Seine Gedanken kommen an diesem Punkt nicht weiter und er versucht sich zu erklären, welche Macht ihn daran hindert, in seiner Erinnerung am Flughafen nicht mit ihr zusammen sein zu können. Was er nun startet ist der Versuch, das Glück festzuhalten. Der folgende Teil des Filmes ist nichts anderes als seine gedanklichen Anstrengungen, oder um es mit den Worten Markers zu sagen, sein „wahnsinniges Gedächtnis“1, das versucht, sich und diese Frau in einer narrativen Erinnerung zu vereinen, um sie verständlich zu machen.

Das Hindernis, das ihm bereits am Flughafen begegnet, versteht er noch nicht. In seinen Gedanken steht sinnbildlich für diese Barriere des Verstehens der dritte Weltkrieg, der zwischen dieser Frau und ihm Berge von Schutt und Zeit auftürmt.

Er selbst ist der Gefangene jener Zeit, jener Erinnerungen und Gedanken. Seine Aufgabe ist es, jenen Ort, besser jene Zeit, vor der Zerstörung wieder zu erreichen, um sie zu erreichen.

Die anderen Figuren seiner Fantasie sind nur Statisten, märchenhafte Archetypen, denn es geht eigentlich nur um ihn und den Versuch, glücklich mit jener Frau zu sein. Als Gefangener der Zeit (Gefangener seiner Selbst, seines Innen, seiner unüberwindlichen Barriere zum Anderen) ist er gefangen in den unveränderlichen Einzelbildern (den unbewegten Dingen) dieser (falschen oder fantasierten) Erinnerung im Camp und gefangen im Nicht-Verständnis der Frau, auf dem Bett sitzend. Ein verrückter Wissenschaftler, der im Mann anfänglich Misstrauen auslöst, avanciert schnell zum vernünftigen Mann und übernimmt die Rolle des Zauberers. Dieser soll ihm mit einem Zaubertrank seinen Wunsch erfüllen: Die Reise durch die Zeit, über die Barriere. Und er selbst ist der strahlende Held, als Einziger dazu auserkoren, diesen Zauber zu empfangen, wie Artus der Einzige war, der das Schwert aus dem Stein zu ziehen vermochte. Denn anders als die anderen Gefangenen, ist seine Liebe so groß, sein Begehren so stark und sein Wunsch zu verstehen so unbändig, dass nur er über dieses obsessive Bild der Vergangenheit verfügt (es ist die obsessive Liebe), welches die Zeitreise (Reise hinter die Barriere der Anderen) ermöglicht. Die Camp-Polizei, welche sogar Träume ausspäht, ist sein eigenes Unbewusstes, welches ihn antreibt zu glauben, er sei dieser Aufgabe gewachsen. Und die Lakaien des Zauberers gleichen den Hexen aus McBeth, denn diese fristen ein unheimliches Dasein in einer Welt, die nicht genau verstanden wird, aber intuitiv mit den Mächten des Bösen im Zusammenhang steht. Wie die Hexen sind sie, mit ihren merkwürdigen Augengläsern ausgestattet, Seher und Verführer. Und wie McBeth gibt sich der Mann in seinen Gedanken dieser Versuchung hin, noch immer im Glauben, das Richtige zu tun und der Held zu sein. Er gibt sich letztendlich der ignoranten Art der Kommunikation hin, wie sie im theoretischen Kapitel beschrieben wurde, als erster Aspekt der Narration, denn nichts anderes als Ignoranz gegenüber einer ungeschrieben Zukunft ist es, den Hexen aus McBeth Folge zu leisten.

Nachdem der Zaubertrank in seinen Arm injiziert wurde, versucht er sich mit wahllosen Erinnerungsbildern, die er leicht abrufen kann, über die Zeit (die Barriere des Anderen) hinwegzusetzen. Irgendwann gelingt es ihm dann, neue, falsche Erinnerungen mit dieser Frau zu erzeugen und er schafft es sogar, unter den Argusaugen des Zauberers, seine Erinnerung umzuschreiben, ohne sich die Augen verbinden zu müssen wie zu Beginn. Doch noch weiß er nicht, dass ihn jener Akt zu einem Sehen der Vergangenheit (der Anderen) verhelfen wird, der ihn für die Gegenwart (für das Eigene) blind macht. Er weiß noch nicht, dass er auf Ödipus` Spuren wandelt.

Dann gelingt es ihm schließlich doch, bei der Frau zu sein und den Höhepunkt, das scheinbar erstrebte Ziel, zu erreichen. In diesem Moment muss er in seiner Erinnerung schlafen, denn nun ist er wieder ganz wach in der Gegenwart, auf dem Bett bei der Frau, die in diesem Moment erwacht und zum bewegten Bild wird. Jedoch ist er selbst nicht anwesend in diesem laufenden Film und das Schlafen in der Erinnerung wie das Wachsein in der Realität werfen Fragen auf.

In der Analyse wurde erkannt, dass es grob gesagt zwei Arten mentaler Bilder gibt: die narrativ ungeordneten, welche überblendet wurden und in denen der Mann nie anwesend war (eher „Verkostet-Werden“) und die narrativ geordneten mit harten Schnitten, in denen er selbst auftauchte (eher „Verkosten“). Bei den laufenden Bildern möchte man nun meinen, sie gehören zu Letzteren, denn es gibt keine Überblendungen und sie sind klar narrativ. Jedoch ist der Phi-Effekt selbst schon eine Art stetiger Überblendung und auch die Art der Narration differiert stark von der oben beschriebenen: Der Mann selbst ist in den laufenden Bildern nicht anwesend. Nicht er ist das narrative Zentrum. Stattdessen spinnt sich die Narration ohne ihn, bewegt sich die Frau ohne ihn und die Realität macht ihn selbst zu ihrem Spielball. So ist sein Wachsein in der Realität ein Verkostet-Werden von der Realität und ein Schlafen in der Sphäre, die sonst die Realität verkostet: Der Erinnerung.

Der Moment der laufenden Bilder beschreibt also genau das Gegenteil dessen, was der Mann versucht, wenn er die Frau in der Erinnerung begreifen will. Ersteres ist nämlich, wie erkannt wurde, ein Wachsein in der Realität und ein Schlafen in der Erinnerung, Letzteres aber ist ein Wachsein im Traum. Wachsein meint hier also ganz konkret das Wachsein als aktives Erinnern und Umschreiben der Erinnerung und somit auch das Umschreiben der Realität, weswegen diese zum Traum wird.

Der Versuch des Mannes, die Frau zu verkosten, brachte ihn zwar bis an die Schwelle, jetzt aber wird er von ihr heimgesucht, wie es auch der in der Analyse erkannte Taumel beschreibt. Plötzlich wurde von ihr auf ihn zurückgeblendet, er selbst schlief ein, evozierte den Übergang nicht selbst. Die Maschine der Erinnerung läuft, doch was sie ihm bringt ist nicht das Andere, das Vergangene, sondern Vergangenheit. Das, was ihn da heimsucht, ist schließlich die Realität der Diegese von LA JETÉE, und diese holt den Mann ein, in seinem Sinnieren über die Liebe. Die Realität, und das ist das Kuriose, ist nichts anderes als die Heimsuchung einer ungefragten Erinnerung, sie ist eine selbst „laufende“ Fiktion, die Vergangenheit erst produziert durch ihren Ablauf. Und mit der Vergangenheit schafft diese Realität auch die Gegenwart als Illusion einer Bewegung, als Fiktion.

Zurückgeworfen in sein wahnsinniges Gedächtnis versucht der Mann mit Gewalt, wieder zu ihr zu gelangen. Fest kneift er die Augen zusammen und trifft sie wieder. Doch diesmal ist es ein Museum zeitloser Tiere, welches den Charakter all dieser gesponnen Erinnerungen überdeutlich zum Ausdruck bringt. Sie sind ausgestopfte Wesen außerhalb der Zeit, oder wie Marker es im Titel eines früheren Filmes nannte: LES STATUES MEURENT AUSSI. Das Museum ist eine tote Welt, mehr kann er durch seine Versuche, in die Vergangenheit zu reisen, nicht erringen. Wie Scottie sich Madeleine in VERTIGO Stück für Stück wieder zusammensetzt, spann der Mann aus LA JETÉE sich das Zusammensein mit der Frau aus Erinnerungsbrocken, wie dem Film VERTIGO selbst, neu zusammen. Doch er kommt nicht über das Museum hinaus und er selbst, wie seine Geliebte, verkommen zu ausgestopften Wesen.

Schließlich erkennt er nur noch die Möglichkeit, sein Glück in der Zukunft zu suchen. Wieder müssen die Campwissenschaftler/Zauberer und Hexen den fadenscheinigen und auf einem lächerlichen Zirkelschluss basierenden Vorwand für ihn liefern, in die Zukunft zu blicken. Der Schluss, die Menschheit der Zukunft kann ihrer eigenen Vergangenheit nicht die überlebenswichtige Hilfe verwähren, glänzt zwar wie Gold, aber er ist nichts anderes als „aller Alchemie erlauchter Ausgang“2, ein Trugschluss und Blendwerk. Es ist, als würde man sagen, die Wirklichkeit müsse sich verändern lassen wie die Erinnerung, als würde man sagen, man könne die Vergangenheit verändern wie die Zukunft, als würde man sagen, dass das Brot, das mich gestern nährte, mich auch morgen noch nähren wird, es ist schließlich die illusorische Annahme der Kausalität. Diese Illusion von Kausalität ist es, die uns denken macht, wir könnten den Anderen wirklich verstehen. Aber die Wirklichkeit kennt keine solche Kausalität, der Andere bleibt der Andere, die Erinnerung bleibt eine Illusion, wie die Bewegung der Bilder im Film und somit die Wirklichkeit eine Illusion bleibt, eine narrative Fiktion. Wirklich ist  nur die Narration, nicht die Geschichte, die sie erzählt.

Die Menschen der Zukunft sind ihm gnädig. Sie sind seine neuen Feen und Elfen, die ihn vom Zauber, der ihm nicht helfen konnte, befreien, indem sie ihm erlauben, zurückzureisen an jenen Ort und jenen Moment, wo er sein Glück vollkommen wähnt.

Nun gelingt es ihm tatsächlich, in Gestalt zurück zum Flughafen zu gelangen, doch seine Augen bleiben verdeckt. Er macht die Frau aus und unternimmt den letzten Versuch, sie zu erreichen, doch nun wird er verstehen, warum er schon zu Begin seiner Gedankenreise genau an diesem Punkte scheiterte.

Wer ihn daran hindert, sie zu erreichen, ist ein Mann aus der Zukunft, ein Seher, (wie) er selbst, der er auf dem Bett sitzt. Zwar versucht er erneut, die Bilder zum Laufen zu bewegen, um das Andere endlich vollends mit dem Eigenen zu vereinen und um mehr als nur ein ausgestopftes Wesen zu sein, doch dies wird nicht gewährt. Die Bilder der Erinnerung können nicht laufen, sie können sich nur immer weiter verstricken. Er kann nicht gleichzeitig mit ihr anwesend sein und die Bilder zum Laufen bewegen. Entweder sie laufen, dann wird er verkostet und verliert sein Eigenes, ist also nicht anwesend, oder er bleibt anwesend, aber eben in der Erinnerung der Standbilder und nicht in der Realität.

Der Moment des Glücks ist vorbei, war schließlich gar kein Glück, denn das Glück lässt sich nicht fassen. Es die Erinnerung des Glücks, die lebt, ein unveränderliches oder nur fiktiv veränderliches Bild. Deswegen kann er sie auch dort nicht erreichen, sich selbst nur noch als unschuldiges, glückliches Kind erinnern oder eben als Sterbenden, der er ist in Hinblick auf den Versuch, das Glück zu fassen, in diesem Moment auf dem Bett. Was ist die Erinnerung an Durst?, lässt Marker in SANS SOLEIL fragen. Jedenfalls ist sie kein Durst, wie die Erinnerung an Glück kein Glück ist. Der Mann aus der Zukunft, der ihn niederstreckt, ist er selbst oder doch zumindest seine Tat. Er konnte schon beim ersten Mal am Flughafen das feststehende Erinnerungsbild nicht ändern, aber da war er noch unschuldig, es war bloßes Erinnern. Deswegen konnte er nicht verstehen, was es war, das ihn hinderte. Weil er aber diese Barriere hintergehen und den Grund wissen wollte, warum er das Unbegreifliche nicht begreifen kann, ging er weiter, kam zurück und nun weiß er sehr deutlich, was es war, das ihm anfänglich so verschwommen zu Augen kam. Es war die Unmöglichkeit, zwei zu sein, nämlich Selbst und Andere(r). Als er noch Junge war, damals auf dem Flughafen, da war dieser Moment auch eine Realität, die ihn verkostete. Er kommt an diesen Ort zurück und versucht diesmal bewusst zu erinnern, das Verkostet-Werden des Jungen mit dem Verkosten des Mannes zu vereinen, doch dies wird nicht gewährt. Was da stirbt, ist das Glück, ähnlich wie im Schwarzfilm in SANS SOLEIL. Nur noch dessen Abwesenheit kann konstatiert werden. In SANS SOLEIL will der imaginierte Filmemacher wissen, was die Funktion von Erinnern ist, die nicht das Gegenteil von Vergessen, sondern eher dessen Auskleidung ist. 3Sie ist jenes „ Nothing sorts out memories from ordinary moments. Later on they do claim remembrance when they show their scars.” aus LA JETÉE – es ist das Umschreiben der Erinnerung, das Narrativieren.

Bevor der Mann die Büchse der Pandora öffnete, war die Erinnerung an den Moment am Flughafen einer jener Momente, die nur Nicht-Vergessen waren. Nun aber ist sie jenes, was Erinnerung ist, die vom Nicht-Vergessen verschieden ist. Es ist das Geschichtenerzählen. Dieser erinnerte Moment fordert nun seine schmerzvolle Erinnerung ein, denn wenngleich er als normaler Moment gesammelt wurde, hat die späte Tat ihn zur Narbe gemacht, zum unveränderlichen Erinnerungsbild des vergangenen Glücks, vielleicht sogar der vergangenen Liebe zu dieser Frau.

Freilich ist dies eine sehr abstrakte Interpretation, aber allein schon der Umstand, dass Marker diesen Film eine „Hommage an VERTIGO“ nennt und Hitchcock selbst in VERTIGO das Auferstehen Madeleines als Konstruktion des wahnsinnigen Gedächtnisses Scotties sieht, rückt diese Interpretation in ein akzeptableres Licht. Die allegorischen Figuren dieser fiktiven Gedächtniserzählung tragen hierzu bei, und gewisse Analogien zum Märchen als einem Sinnbild des Geschichtenerzählens selbst scheinen wenig konstruiert. Und da gerade das Geschichtenerzählen, respektive das Erinnern, ein großes Thema dieses Films ist, wie diese Arbeit hoffentlich zu zeigen vermochte, wagte ich es, diese als Ahnung schon viele Jahre in mir schlummernde Idee der Geschichte, die LA JETÉE vielleicht beschreibt, in Form dieser Arbeit niederzuschreiben.

  1. In SANS SOLEIL heißt es: „He wrote me that only one film had been capable of portraying impossible memory—insane memory: Alfred Hitchcock’s Vertigo.”
  2. Aus: Rilke, Rainer Maria: Die Kurtisane.
  3. SANS SOLEIL: “He wrote me: I will have spent my life trying to understand the function of remembering, which is not the opposite of forgetting, but rather its lining.”
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