Wie ich noch bei ihm war, ja. Er erschien mir wie ihr Bruder. Sehr jung, kräftig. Etwas schüchtern mir gegenüber, oder unbeholfen. Aber sehr zurückhaltend. In Wirklichkeit viel cooler und abgeklärter als ich, aber er zeigte es nicht. Er respektiert mich irgendwie. Wahrscheinlich wegen ihr. Ansonsten bin ich ihm sicher egal. Ich bin nichts für ihn, nur sie. Ich weiß auch nicht wer er ist, was er ist, wo er herkommt. Wieso war ich bei ihm? Ich ging. Hatte sie das eingefädelt. Im frischen Morgenlicht. Leicht kühl und lau, gingen wir über diesen breiten Zebrastreifen, inmitten anderer Menschen. Die Straße war grau; die Stadt im morgendlichen graublau. Ganz mild und feucht. Sehr schön und sanft. Selbst die Geräusche sanft und gedämpft. Was war das nur für eine Stadt, wo ich hier war, was für ein Leben? Es wollte mir nicht einfallen. Ich war einfach hier. Ein bisschen China und ein bisschen New York. Kapstadt und Frankfurt. London und nirgendwo. Ich weiß bis heute nicht, wo die Stadt ist. Aber ich glaube, sie ist überall ein bisschen. Es ist die blaue Stadt und mein Leben. Und es ist gut. Wir gingen über den breiten Zebrastreifen, vernahmen ihre milden Geräusche und ihren milden blauen Duft. Sie sagt es mir einfach. Haben wir gestritten – ich weiß es nicht. Sie sagt es einfach. Es sind die gleichen schönen Augen, die mich anlächeln und mir einst Liebe geschworen, der gleiche süße Mund, der mir zuflüstert und mich unzählige Male geküsst, der jetzt kühl und ruhig zu mir spricht. Als wir über den breiten Zebrastreifen gehen, sagt sie es. Dass sie ihn geliebt hat, ganz sanft und mild. Wie schön es war, dieser geheimnisvolle junge Mann, der mich ihretwegen respektiert. Erzählt es mir leise, wie einer Freundin, einer Vertrauten. Eben war ich noch bei ihm. Sagt sie es mir deshalb? Nein, einfach so. Warum nicht. Du musst doch nicht sauer sein. Das macht dir doch nichts aus. Haben wir nicht darüber gesprochen. Ja, es war sehr schön mit ihm. Beim Überqueren des Zebrastreifens. So oft habe ich sie getröstet. Viel haben wir uns geschworen. So viel Ehrlichkeit zwischen uns. Schön und mild bewegen sich die ästhetischen Körper in der feuchten, milden Morgenluft, sanft ihr Stöhnen. Ja, er ist ein guter Liebhaber, ein guter Gastgeber. Ich bin ihm egal. Aber er respektiert mich.
Verraten gehe ich über den breiten Zebrastreifen. Verraten an ihn. Ob er weiß, dass ich weine und Angst habe? Das andere Ende, wie ein weit entferntes Ufer, das ich nie erreichen werde. Nie werde ich es erreichen, will es nicht erreichen. Bleibe stehen, vor den Autos. Vor dem Leben. Wie ein kleines Kind, beleidigt. Autos, Autos. Wie egal sind jetzt Autos, da mein Innerstes verraten. Saß ich eben noch bei ihm, bin ich jetzt ein gebrochener Mann, der das andere Ufer des Zebrastreifens nicht mehr erreicht.
Die milde Schwüle erdrückt mich und ich fühle mich wohl unter dieser Last, will erdrückt werden, auf den Boden gedrückt werden, überrollt werden. Sie berührt mein Gesicht, zwingt mich in ihre Augen zu sehen und wie ich es tue, treffen mich tausend brennende Pfeile ins Gesicht, in die Brust, in die Beine und es wird so heiß, dass ich mich losreise. Mit aller Kraft. Alles werde ich zerstören, alles tun. Nur diesen Pfeilen nicht länger ausgesetzt sein. Ich muß weg. Weg – wohin? Das Ufer kann ich nicht mehr erreichen, nie mehr erreichen. Zurück gibt es nicht. Hinein in die Stadt, quer zu allem. Runter vom ordentlichen Zebrastreifen. Quertreiben. Über die Kreuzung, über die Autos durch die milde blaue Luft in die blaue Stadt, die hinter mir in Flammen steht und deren Zukunft mich erdrückt. Deren unendliche Schwüle mich erdrückt. Nein, es wird nie wieder Tag. Nie wieder. Es bleibt immer dieser Morgen. Immer die sanft aneinanderreibenden, kühlen Körper, sich zärtlich ins Ohr flüsternd, auf dem kühlen, sanften Seidenbett, in der milden Morgenluft, bei geöffnetem Fenster.
Sein Fenster ist immer offen. Ich weiß doch gar nicht wohin ich soll. Habe kein Haus in dieser Stadt, kein Leben in dieser Stadt. Nur meine Füße, keine Rast. Wild kreisen meine Gedanken und ich ringe um Luft. Jeder Hafen abgebrannt. Alles ausgelöscht. Auf weichem Fundament gebaut, das jetzt nachgibt. Alles stürzt ein und ich sehne mich danach unter allem begraben zu sein. Will die Schwere auf meiner Brust spüren, mich nicht bewegen können. Doch ich atme die milde Morgenluft, stehe immer noch da, allein. Jetzt allein. Kein Traum. Die blaue Stadt hat mir nichts getan. Nicht eingestürzt. Wird es auch niemals tun. Sie wird immer hier sein, hier stehen, beobachten und jedem das Gleiche antworten. Selbst die Zigarette wie ein angenehmer, kalter Zug aus einer Wasserpfeife. Feucht und mild. Jetzt gibt es nur noch eins. Längst weiß ich es. Ich muss noch mal hin, zu ihm. Sie hat es gesagt, einfach gesagt. Ich habe ihr in die Augen gesehen und wir sind verbrannt. Aber ihm muss ich noch in die Augen sehen, in seine ruhigen, respektvollen Augen. Vielleicht werde ich diesmal auch Verachtung finden. Ich glaube, ich hoffe Verachtung zu finden, damit ich ihn verachten kann. Respektvoll und höflich lächelt er mir zu, höflich und verliebt flüstert er ihr ins Ohr, macht mich zum größten Idioten der Welt, zerstört mein Leben und begleitet mich freundlich nach draußen, zeigt mir noch sein kostbar eingerichtetes Schlafzimmer. Das Fenster immer offen. Aber nichts Falsches konnte ich entdecken. Ich muss mich getäuscht haben. Muss ihn noch einmal sehen. Diese kühlen Augen wiedersehen. Den kühlen Tod. Ihn meinen Blick spüren lassen, was wird er da entgegensetzten können?
Nur, wie komme ich zu ihm? Durch die ganze Stadt zu Fuß. Die Himmelsrichtung wird mir helfen, ich werde ihn finden, kann ihn nicht verfehlen. Ich bin gut, die Stadt mein Verbündeter, so mache ich mich auf den Weg.
Ziehe durch die Straßen, über Hügel und Treppen, durch Kaufhäuser und Einkaufspassagen, die sich endlos strecken. Stur meiner Richtung folgend. Ein wirres Suchen durch mein eigenes Leben. Bekanntes und unbekanntes. Barfuss wie ein Indianer auf dem Kriegspfad. Der letzte Pfad. Mein ganzes Leben würde ich keinen Weg mehr so eifrig gehen wie diesen. Nur noch dieser Weg hält mich am Leben. Keine Rast. Ein Leben auf Zeit. Und doch erscheint mir der Weg endlos. Die vertraute Stadt, mein Verbündeter, wird zur fremden Landschaft. Wandere durch China und Marokko. Fremde Gesichter und Häuser. Fremde Leben und fremde Gefühle. Wo begab ich mich da hin?
Aus einem kleinen Laden tritt ein bekanntes Gesicht auf mich zu. Eine alte Schulfreundin. Ein Leben nicht gesehen. Mit Eimer und Lumpen beim Putzen des kleinen Lokals, dass ihrem Mann gehört. Nur geheiratet, um hier zu sein, in dieser so schönen milden Stadt. Erwartet ein Kind von ihm. Nur geheiratet, um hier zu sein. Ja, mir geht es gut, muss weiter, Wiedersehen. Ich bin hier, weiß nicht wie ich herkam. Ich eile weiter. Die Kühle droht nachzulassen. Der Boden unter meinen Füßen wird heiß. Schulfreundin. Was habe ich mir in der Schule von meinem Leben ausgemalt, von der Liebe. Um hier zu sein, in dieser milden Stadt, die ich im Begriff war zu verlassen. Ich war schon nicht mehr hier. Alles fremd. Fremd wie die Schulfreundin. Fremd wie meine eigene Vergangenheit.
Durch tausend Städte und Staaten quälte ich mich und je näher ich kam, desto mehr verkrampfte mein Körper. Am liebsten würde ich heulen. Kein Triumphgefühl. Ich habe verloren. Ich weiß ich habe längst verloren, aber ich muss jetzt rein in dieses Haus. Ruhig liegt es da, vor mir. Schön und ordentlich, als wäre nie etwas geschehen. Und es ist auch nie etwas geschehen. Es war mein Grabstein und ich ging hinein.
Ich weiß gar nichts, weiß gar nichts mehr. Will nichts wissen. Laufe so schnell ich kann über den feuchten gepflegten Rasen. Renne über den Rasen, die Kiefernzapfen. Vielleicht fand ich in seinen Augen nicht was ich suchte. Kein Hohn, keine Verachtung. Vielleicht fand ich stattdessen Überlegenheit oder gar Mitleid. Weiß nicht, will nichts wissen, gar nichts wissen. Erlaube mir alles zu ignorieren. Muss jetzt nur noch laufen, weit weg. Vorbei an dem Mann im Sonnenstuhl. Eigentlich viel zu früh zum Sonnen, zu früh am Morgen. Vergessen wir dieses Land einfach, dieses fremde Leben. Das bin ich nicht. Ich bin siebzehn und unschuldig. Siebzehn und mutig. Ich weiß nichts mehr. Aber ich habe ihm eine reingehauen. Aber richtig! Und es hat gar keinen Spaß gemacht, tat mir mehr weh als ihm. Eine Pflichtübung, ein kleiner Denkzettel, eine Verzweiflungstat, ein hilfloser Vorwurf an ihn mit Tränen in den Augen. Gleich einer Bitte er möge alles ungeschehen machen. Stattdessen stürmte sie ins Haus. Schrecken in ihren Augen – als sie uns – und seine Nase bluten sieht. Seine Nase. Kümmert sich um ihn, um seine Nase. Ich stehe einfach da. Ich glaube sie schimpft mich. Kümmert sich um seine Nase und lässt mich sterben, in der milden Morgenluft, alles ganz ruhig. Mein Herz auf dem Marmorboden seiner Villa. Spürt die angenehme Kühle und Milde, bei seinen letzten Schlägen. Mein Herz stirbt und sie kümmert sich um seine Nase. Er sagt nichts. So viele Jahre, soviel Vertrauen. Gestorben. Ich bin tot. Warum ich nicht gesagt habe, dass ich ihn sehen will? Ihr Chauffeur hätte mich gefahren. Wie ich denn hergefunden habe. Durch die gefährliche Stadt. War ich wirklich ein Vögelchen in ihrem goldenen Käfig?
Immer dichter wurde der Schleier, durch den ich ihre Worte schließlich nicht mehr vernahm. Meine milde Stadt. Wie schön fühlte sich der Marmorboden unter meinen nackten Füßen an. Ich rannte weg. Ich renne. Ich bin siebzehn und weiß nichts. Ich habe das alles nicht miterlebt. Ich kann doch laufen, ich kann doch leben, geht mir aus dem Weg. Diese verfluchten Villen, diese Stadt. Ich schleiche mich auf ein Boot und werde abhauen von hier. Durch die gepflegten Gärten renne ich über den taufrischen Rasen. Am Nachbar im Sonnenstuhl vorbei. Eigentlich viel zu früh zum Sonnen. Die Kiefernzapfen tun mir nicht mehr weh. Kein Schmerz mehr. Er sieht mir nach, ruft mir nach, schreit mir nach. Ich höre nichts, weiß nichts, habe euch nichts mehr zu sagen. Nichts ist passiert. Ich bin 17 und springe einfach durch diese Gärten, diese schönen Gärten und über diese schöne Gartenmauer der Villa des Nachbarn, die an den Klippen steht, vor einer malerischen Felsenküste. Tief und steil geht es hinab zum Meer und er ruft mir nach. Ich wusste nicht, dass das Meer so nah ist. Es ist wunderschön. Ich glaube ich bin glücklich an diesem Morgen, mit meiner milden blauen Stadt und dem Meer. Und ich fliege…
Kurzgeschichte von Christopher Haug