Wachsein im Traum – Theoretische Überlegungen, Analyse und Interpretation von Chris Markers LA JETÉE

3.4.1. Pulp Fiction

Der unbehauene Stein mit der Aufschrift tête-apôtre ist nicht der Verweis auf den tête d’apôtre, den ersten Apostel, sondern auf genau das, was da steht, nämlich auf den „Kopf Apostel“. Ein Apostel1 ist ein Vertreter einer Weltanschauung, der Bote einer Wahrheit. Und diese Wahrheit ist nicht die Gestalt der fertig behauenen Statue, sondern das, wofür diese Statue steht. Deswegen verbleibt dieser Stein in seiner symbolischen Rohform. Der Kopf des Betrachters ist es, der diese Wahrheit ent-birgt. Diese Wahrheit ist aber keine Wahrheit der Welt, sondern eine narrative, eine fiktive, eben eine Weltanschauung. Dass nun der Apostel in LA JETÉE zum Kopf-Apostel wird, weist aber auf eine einzige Wahrheit der Welt hin, die sich über die Fiktion zu stellen vermag: Die Weltanschauung ist vor allem Anschauung – narratives Verständnis – und deswegen kein wirkliches Verstehen der Welt. Da, wo die Welt selbst sich „zeigt“, fehlt die Anschauung, der Betrachter. Deswegen können wir wie Sokrates nur wissen, dass wir nicht(s) wissen. Das der-Andere-Werden ist wie das den-Anderen-zum-Eigenen-Machen immer noch eine Fiktion.

Der Mann in LA JETÉE wird zum Kopf-Apostel, nicht zum ersten Apostel. Er verkündet keine Weltanschauung, sondern ist Bote des Kopfes. Die Fiktion im Kopf ist die erste Fiktion, was in LA JETÉE der Versuch ist, das Glück zu fassen/die Welt zu verstehen und in den mentalen Bildern zu leben/Ernst und Spiel zu vereinen. Die zweite Fiktion ist die Erzählung des Versuchs, das Glück zu fassen. Wo in der ersten Fiktion perspektivisch ein Mann in einem Science-Fiction-Film den Tod findet, da wird in der zweiten Fiktion, nicht-perspektivisch, der Versuch, das Glück zu fassen als Fiktion enttarnt, da das Fassen des Glücks die Aufgabe der Perspektive verlangt. In der ersten Fiktion ist der Tod der endgültige Abschluss einer Zeitreise, also des Lebens, in der zweiten Fiktion sind der Tod und das Leben gleichzeitig in einem zeitlosen Stillstand, nicht wegen der Zeitschleife der Science-Fiction, sondern weil der Versuch, das Glück zu fassen, ein Sprung vor die Biegung der Erfahrung und somit vor (oder nach) das (perspektivische) Menschsein bedeutet. Was als perspektivische Zeitreise linear und sinnvoll wirkt, wird nicht-perspektivisch zu einem non-linearen Brei. Die Fiktion der Fiktion ist ein Brei der Fiktion und LA JETÉE als Fiction-Fiction-Film wird zu Pulp Fiction.2

LA JETÉE verbessert somit nicht die Sicht auf die Welt, sondern auf die Scheinwerfer/Narrationen, die die Welt erhellen (1. Aspekt der Narration: die zwei Arten der Kommunikation, nämlich Ernst und Spiel). Und diese werden von LA JETÉE abgeschaltet/als Schein enttarnt, wodurch weniger die Gefahr der Überzeugung besteht, auf dem vermeintlich richtigen Pfad zu sein. Und dies ist der zweite Aspekt der Narration, der das Trennende ausstellt. Das Trennende zwischen Signifikant und verschobenem Signifikat, das Trennende zwischen der Fiktion des „der-Andere-Sein“ oder „den-Anderen-zum-Eigenen-Machen“ und dem tatsächlichen Vollzug dieser Illusion, der nur in einer Sphäre stattfindet, in der es weder den Anderen noch den Eigenen gibt, das Trennende zwischen der Erfahrung und dem vor der Biegung der Erfahrung sein, das Trennende zwischen Körper und Geist und das Aufheben des Glaubens einer Kausalität zwischen den beiden, das Trennende also zwischen der Geschichte und dem Geschichtenerzählen.

Ist das der „Teen Spirit“ von Chris Marker noch vor Nirvana? Ist es das, was wir verloren haben, in unserer fanatischen Welt zu schnell laufender Bilder, hüben wie drüben? Haben wir vor lauter vermeintlicher Wahrheiten vergessen: Here we are now, entertain us?

Schluss: Die reale Fiktion der fiktionalen Realität

Wenn das Thema einer Fiktion die Fiktion selbst ist, wie können da noch Geschichten erzählt werden?

Wenn eine Geschichte X erzählt wird und das Geschichtenerzählen selbst dabei ausstellt, passiert etwas Merkwürdiges: Das wahre Erlebnis nämlich, die Erzählung der Geschichte X, wird verbunden mit der Geschichte X, indem das Thema der Geschichte X das Geschichtenerzählen wird. Das Thema „Geschichtenerzählen“ kann aber in vielen Fiktionen vorkommen. Martin Luther King erzählt in einer berühmten Ansprache die Geschichte eines Traums. Das Thema ist nicht, wie man meint, die Abschaffung der Rassentrennung, das wäre das Thema des Traums. King aber erzählt vom Traum, der von der Aufhebung der Rassentrennung handelt, also ist das Thema die Erzählung eines Traums. Hitler erzählt die Geschichte der arischen Herrenrasse. Thema ist nicht die Herrenrasse, sondern der Mythos der Herrenrasse, also die Geschichte selbst.

Und bei LA JETÉE sieht es folgendermaßen aus: Das Thema ist nicht die zyklische Zeitreise und der Tod eines Mannes am Flughafen – das wäre das Thema von TWELVE MONKEYS –  sondern das Thema ist es, die Geschichte eines Mannes mit obsessivem Bild zu erzählen.

Was die ersten beiden Beispiele betrifft, so zeigt sich der Umgang mit dem Geschichtenerzählen als etwas sehr Machtvolles, vielleicht auch Gefährliches in der Politik. Es entsteht aber das Gefühl, dass das, was erzählt wird, nur ein austauschbarer Inhalt ist, worum es eigentlich geht, ist aber das unaustauschbare und wahre Geschichtenerzählen. In der Politik von heute scheint es so, dass, wer am besten erzählt, gewinnt. Deswegen ist das, was heute Politik genannt wird, eigentlich ein Wettstreit von Geschichtenerzählern, man könnte sie auch Schauspieler nennen.3

Aber wo ist dann jene Politik geblieben, die versucht, „ehrlich“ Themen zu behandeln? Sie ist in die Universitäten, Bildungseinrichtungen und die Wissenschaft ganz allgemein verschoben worden, oftmals ohne sich dessen bewusst zu sein. Dort werden Regeln erstellt und Urteile gefällt, die als universale Gesetze unser Zusammenleben bestimmen. Sei es in der Wirtschaft oder der Naturwissenschaft, der Geisteswissenschaft oder wo auch immer, die Wissenschaften sind der Leitfaden geworden, an dem sich der (aufgeklärte?) Mensch orientiert – ihren Regeln unterwerfen wir uns. Dabei kann Wissenschaft aber nicht mehr frei sein oder frei forschen, denn all ihre Erkenntnisse wiegen zu viel auf der Waagschale der politischen Entscheidungen.

Deswegen ist die wahre Wissenschaft nur noch selten an Universitäten zu finden. Stattdessen hat sie sich zurückgezogen in die Philosophie selbst. Und damit fand sie zurück an jenen Ort, von dem sie vermutlich kam, nur mit der traurigen Missbildung, nun keine tatsächliche Macht mehr zu besitzen, obwohl sie vielleicht die letzte verbleibende Wissenschaft darstellt, aber eben doch nur als Ornament agiert. Aber nur die Philosophie bleibt skeptisch und frei, weil sie ungehorsam ist, jedem und allem gegenüber und nur einem Prinzip folgt, dem des Nicht-Wissens nämlich, dem des Staunens und Taumelns.

Das Staunen und Taumeln wird heute gerne Kindern in die Schuhe geschoben und dabei vergessen, wie manipulierbar und skrupellos die Kleinen sein können – sind nicht Kindersoldaten genau deswegen so gefürchtet? So werden Philosophen als kindisch (naiv/weltfremd) diffamiert und Kinder zu Philosophen hochstilisiert – man betrachte nur den exzessiven Ge-(Miss)-brauch von Kindern in Filmproduktionen.

Benötigt wird aber keine Philosophie der Kinder, sondern die ehrliche Aufrichtigkeit erwachsener Menschen und die Bekenntnis zu ihrem Taumel, denn nur auf dieser gesunden Basis, so wackelig sie auch erscheinen mag, kann Wissenschaft betrieben werden. Also wählt. Nehmt den Geschichtenerzählern die politische Macht und verweist sie zurück in die Arena, findet in den Universitäten den Weg zurück zur Philosophie und zum Unbekannten und weg vom Archivieren, denn ist nicht das Anlegen eines Archivs bereits ein politischer Akt? Und lasst das Volk Politiker sein, wie einst, und dann, wenn alle wieder ihren Platz und ihre Aufgabe gefunden haben, wird sich auch wieder zeigen, warum die Geschichtenerzähler so wichtig sind: Wenn die Wissenschaftler uns zur Kritik mahnen dadurch, dass sie nicht Wissen schaffen, sondern Unwissen aufdecken und wenn das Volk unsere Politik gestaltet dadurch, dass es nicht Wahrheiten und Utopien nachläuft, sondern ehrlich ist, dann sind es die Geschichtenerzähler, die die Verantwortung übernehmen, dadurch, dass sie Geschichten nicht als Flucht anbieten4, sondern als versöhnende Macht zwischen individueller, utopieloser Ehrlichkeit und kollektiver, kritischer Unwissenheit. Versöhnt werden also Individuum und Kollektiv, Ehrlichkeit und Unwissenheit, Wachzustand und Traum. Und das Geschichtenerzählen übernimmt für genau diese Allianz die Verantwortung, dadurch, dass es sich dabei nicht in politischer Macht für die Formung der Gemeinschaft ereifert und auch nicht die Welt zu ergründen versucht, um das Individuum herauszuschleifen, was beides verantwortungslos ist. Es übernimmt Verantwortung dafür, dass es beides nicht kann, und genau das bedeutet Verantwortung: Anerkennung von Inkompetenz. Und diese kann kein Einzelner für einen oder viele andere übernehmen und keine Gemeinschaft für einen Einzelnen. Stattdessen ist jeder Einzelne für sich selbst verantwortlich. Damit dies nun nicht im Einzelkämpfertum endet, müssen Geschichten erzählt werden, denn das Geschichtenerzählen bindet Einzelverantwortung in postperpektivischer, entindividualisierter Fiktion und wird so selbst zur Verantwortung für die Welt und für alle, die darin leben und an diesem Geschichtenerzählen teilhaben. Wir müssen aufhören, diese Macht für andere Zwecke zu missbrauchen und damit die Verantwortung zu verlieren.

  1. Im Duden, Das Fremdwörterbuch: der; -s, – (gr.-lat.: „abgesandt; Bote“): 1. (Rel) Jünger Jesu. 2.(iron.) jmd., der für eine Welt- od. Lebensanschauung mit Nachdruck eintritt u. sie zu verwirklichen sucht
  2. Pulp bedeutet übersetzt Brei. Der Film PULP FICTION von Q. Tarantino verfährt ebenso. Die Erzählung der Geschichte erhält den gleichen Stellenwert als Geschichte wie die Geschichte selbst. Also besteht der Brei nicht nur aus vielen zusammengekleisterten Geschichten, sondern aus der Geschichte von Geschichten.
  3. Zitat: Politiker wie Gerhard Schröder sind leere Gestalten. Sie sind nicht wie reale Menschen: Sie sind

    Figuren der Repräsentation, die einen bestimmten gesellschaftlichen Auftrag verkörpern sollen.

    Diesen gesellschaftlichen Auftrag können sie verkörpern, gerade weil sie leer sind. Wenn sie nicht leer

    wären, könnten sie auch nichts verkörpern, sie hätten sozusagen keinen Platz, um etwas in sich

    aufzunehmen. Deshalb sind Politiker grundsätzlich leer. Wenn man sagt, sie seien nur Masken,

    scheint das eine Kritik zu sein, ist aber ein Kompliment. Ende Zitat. In: Groys, Boris: Strategien der Repräsentation 4. Dass sie leer sind und deswegen nicht korrupt, also nicht im Eigeninteresse handeln, mag vielleicht ein Kompliment sein. Aber dass Politiker das zu behandelnde Thema als beliebig erscheinen lassen und auch dass sie den Umstand des Repräsentierens selbst, also das Geschichtenerzählen, zum Ausgangspunkt politischer Macht machen, lässt die Idee des politischen Repräsentanten in meinen Augen sehr problematisch erscheinen.

  4. Wohl beschreibt Markers Geschichtenerzählen eine Flucht, eine Flucht vor der Heimsuchung (der Erinnerung) wie vor der Realität selbst, aber besser müsste es heißen „fiktionale Flucht“, zumal die Fiktion und deren Charakter als bloße Flucht sich ständig ausstellt und dem Menschen genau dadurch die Verantwortung zurück in die Hände legt, weil nämlich die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung der Welt wie der Ausflucht aus dieser wieder in die Händen der Menschen gelegt werden und er sich so seiner Inkompetenz bewusst wird.
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