Kapitel 3: Interpretation
3.1. Die Story von LA JETEE
Folgt man allein der Erzählung, so ist die Geschichte zyklisch. Es beginnt und endet am Flughafen. Dann muss man allerdings auch davon ausgehen, dass die Zeitreisen wirklich stattfanden und dass somit, ganz entgegen aller Versuche dieser Arbeit, das Gegenteil zu zeigen, das vollkommene Eintauchen von einer Welt oder Zeit in eine andere möglich sei, oder zumindest im Film möglich sei, was dem Film eine bejahende Position hierzu unterstellen würde. Weiter bleibt der fade Nachgeschmack, dass der Umstand, dass es dem Protagonisten nicht möglich war, die Zeit zu verändern, obwohl Zeitreisen doch möglich sind, niemals logisch erklärt werden kann. Selbst Stephen Hawking, als einer jener sich mit Zeitreisen Beschäftigenden, der wohl noch den seriösesten wissenschaftlichen Background hat, fällt hierzu meines Erachtens keine zufrieden stellende Erklärung ein.1 Und so schieben derartige Filmbetrachtungen von LA JETÉE die Schuld wohl dem Autor selbst in die Schuhe, Chris Marker nämlich, der seinen Helden einfach nicht davonkommen lässt, erkennt aber nicht, dass er seinen Helden nicht davon kommen lassen kann, eben weil keine Zeitreisen im Sinne einer kompletten Immersion möglich sind, eben weil LA JETÉE nichts anderes tut als eben jene Illusion zu entkräften.
Dabei hätte es doch so einfach sein können. Schließlich ist im Film, nach obiger Lesart betrachtet, kein zwingender Grund zu finden, warum der andere Mann aus der Zukunft unserem Helden mit in die Vergangenheit gefolgt ist. War es Bösartigkeit? Waren es einfach die Gesetzte des Regimes, wie mit Gefangenen zu verfahren ist, nachdem sie ihre Schuldigkeit getan haben? Aber Moment, eine Erklärung bleibt da noch übrig: Der Tod des Protagonisten ist ja zugleich der Beginn des Zyklus wie sein Ende. Wäre er entkommen, gäbe es für das Kind nicht dieses obsessive Bild, so meinen manche. Ohne das obsessive Bild aber gäbe es auch die Zeitreise nicht, weswegen es dann gar keinen Grund gäbe, entkommen zu müssen. Um es in den Worten von LA JETÉE zu sagen: This sophism was taken for Fate in disguise. Was also hier als notwendiger Beweis angesehen wird ist ein Sophismus, wie das für eine zirkuläre Beschreibung von LA JETÉE nicht anders zu erwarten ist und über den sich schon der Text von LA JETÉE seit vielen Jahren lustig zu machen pflegt.
Deswegen kann es nicht gewinnbringend sein, einem symmetrischen Gebilde Symmetrie zu beweisen, weil es symmetrisch ist. Meine Frage lautet deswegen nicht nur, warum der Protagonist sterben musste, sondern auch, ob LA JETÉE symmetrisch ist. Und die Antwort ist nein.
Deutlichster Beweis hierfür ist, dass der Film nur einmal zu laufen beginnt. Und genau dieser Moment, die Naht des scheinbaren Kreises gewissermaßen, muss untersucht werden. Das Zusammentreffen von Anfang und Ende des Films am Flughafen ist letztlich nur Effekt dieses Ausgangspunkts. Simpel argumentiert, erfordert eine Symmetrie, wie sie ein Zyklus erfordert, ja eigentlich auch ein symmetrisches Pendant zum Moment des laufenden Films. Zwar bezieht sich die Symmetrie der Erzählung auf einen Kreis in der Zeit; der Umgang mit Einzelbildern und laufendem Film stellt aber nichts anderes dar als eben dies, eine Darstellung der Zeit. Dieser gesuchte Symmetriepunkt könnte der Moment ganz am Ende sein. Denn wie für die Frau die Bilder laufen lernten, könnten sie es nun auch für den Mann tun und er könnte seinen Verfolgern entkommen, was aber nicht geschieht. Wird LA JETÉE nicht per se als zyklisch betrachtet, sollte es hierfür einen anderen Grund geben, als jenen des Zyklus selbst, der eigentlich nichts anderes beweist, als dass Zeitreisen nicht möglich sind.
- „Nehmen Sie beispielsweise an, Sie gingen zurück und brächten Ihren Urgroßvater zur Strecke, als er noch ein Kind war.“ Um diesem Paradox zu entgehen, spricht Hawking einmal von einer „kosmischen Zensur“, also dass der Zeitreisende nicht einfach tun kann, was er will, sondern nur das, was schon in der Geschichte geschrieben steht. Das aber wäre, trotz Zeitreise, der Laplace`sche Dämon par excellence. Das andere Mal spricht er vom „Chronologieschutz“, also dass die Naturgesetze verhindern, dass makroskopische Körper Information in die Vergangenheit tragen können, was dann auch die Zeitreise für Menschen hinfällig macht. Jedoch führen ihn die Annahmen, die einen solchen Chronologieschutz wahrscheinlich machen, zu dem wahrscheinlichen Ergebnis, dass Zeitreisen gar nicht möglich sind. Chronologieschutz und kosmische Zensur erscheinen also letztendlich die schlichte Unmöglichkeit der Zeitreise zu postulieren. Hawking, Stephen: Eine kurze Geschichte der Zeit, Seite 198-202. ↩