2.1.3. Bild und Erzählung
Rein inhaltlich betrachtet passen Bild und Text fast immer irgendwie zusammen. Dennoch entsteht mancherorts der Eindruck, beide würden zueinander auf Distanz gehen. Deswegen sei für die zusammenführende Betrachtung von Bild und Erzählung folgende These gewählt: Bild und Erzählung stehen thematisch immer in Beziehung zueinander, jedoch führt vor allem der kommentierende Ton der Erzählung der Stimme und die dadurch zusätzlich gegebenen Informationen, welche somit auch das Bild als nicht bloße Illustration des Textes erscheinen lassen, zum Eindruck zweier, bis zu einem gewissen Grade eigenständiger Stränge. Das Kommentierende der Erzählung ist nun aber nicht einfach ein Mehr an Information, sondern, da es sich um einen literarischen Text handelt, verhüllte oder kodierte Information. Gleiches gilt für die Bilder, die ebenfalls immer wieder unerklärte Hinweise zu geben scheinen, welche auch in der Erzählerstimme nicht zu Wort kommen. Es geht also weniger darum, für die Gesamtnarration wichtige Informationen auditiv zu vermitteln, sondern eher um die Aufspaltung der Gesamtnarration in zwei Stränge, was zu einem Dazwischen führt, welches vom Zuschauer wiederum hypothetisch gefüllt werden muss. Dass also von einer Trennung oder Distanz der beide Stränge die Rede ist, rührt, um es zu wiederholen, weniger von der thematischen Differenz als vom nicht vollständigen Aufgehen der textlichen Information in die Bildliche und umgekehrt her, und zwar in dem Sinne, dass die sich nicht ergänzenden Stränge teilweise unverständlich bleiben. Dies ist insofern spannend, da die Protagonisten im Bild ja nicht sprechen, weswegen die auditive Erzählung einen extrem hohen Stellenwert für die Konstruktion der Gesamtnarration erlangt und auch, weil die Bilder als Fotos noch nicht einmal den narrativierenden Zusammenhalt von bewegtem Film besitzen.
Dem Zuschauer obliegt es nun, die Wissens- und Gedächtnisfragmente von LA JETÉE selbst zu einer Erzählung zusammenzustellen. Die erkannte SR in Bild und Ton bestärken dabei den fragmentarischen Charakter, dergestalt, dass die Fragmente für sich genommen eben nicht eine kohärente Narration vorgeben, sondern eine paradoxe. Paradox ist die auditive Erzählung, weil sie einen Sophismus beschreibt, über den sie sich selbst noch lustig zu machen scheint, nämlich die Zeitreise, und zudem in unlebbaren Zeitformen spricht. Die Bilder sind paradox, weil sie, obwohl sie Film sind (abgefilmte) Standbilder bleiben. Und schließlich verhält sich auditive Erzählung zu Bild paradox, weil sie zwar inhaltlich gleiche Wege gehen, dennoch aber nicht ineinander aufgehen.
Wo in klassischen, narrativen Filmen das Gedächtnis des Zuschauers bestenfalls zum Signifikat filmischer Signifikanten wird – zum Inhalt der vom Film gegebenen narrativen Struktur und Ordnung -, wird LA JETÉE selbst zum Gedächtnis1 des Zuschauers, dessen Aktivität darin besteht, es zu erinnern. Die Bilder von LA JETÉE also werden zu den Gedächtnisbildern/Signifikaten, die der Zuschauer erinnert. Das Thema des Films ist deswegen zuvorderst das Erinnern selbst, noch vor der Geschichte, die erinnert wird. Und auch wenn im klassischen Film der Zuschauer bis zu einem gewissen Grad selbst die Geschichte schreibt, so ist doch nur in einem Film wie LA JETÉE das Schreiben der Geschichte die Geschichte.
Im Prozess des Erinnerns fallen Signifikat und Signifikant in einer Person zusammen. Der erinnerte Baum ist sowohl ein Signifikant für einen Baum wie selbst Signifikat – ein virtuelles Ding/Gedächtnis und zusammen mit dem Signifikant als Erinnerung präsent und wirkungsmächtig. So funktioniert jede Geschichte, jede Narration.2 Der erste wichtige Aspekt der Narration war, das Davor mit dem Danach zu vereinen, weswegen auch alles immer erst nachträglich zu dem wird, was es ist.3 Der zweite wichtige Aspekt, von dem nun hier die Rede ist, ist, dass Symbol und verschobenes Symbolisiertes zusammenfallen, denn sonst bliebe jede Narration rein virtuell.4 wie das Reale [letztes Jahr hat sich tatsächlich etwas zugetragen] sind bei jedem der beiden Autoren [Robbe-Grillet und Resnais] unterschieden und trotzdem ununterscheidbar.“ In: Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild, 1997, Seite 139.
Diese verschiedene Ununterscheidbarkeit gründet sich meines Erachtens darin, dass das Symbolische/Imaginäre – das Zutragen selbst, als Ordnung der Signifikanten, die nur im Kopf besteht – über die Erinnerung/Narration eine Verbindung eingeht mit dem Realen/Symbol – dem Etwas, das sich als Signifikat Erinnerung tatsächlich zuträgt. Imaginäres und Reales fallen zusammen und sind deswegen ununterscheidbar, aber sie sind unterschieden, weil das Reale das Reale der Aktualisierung der Imagination ist und nicht das Reale der Imagination. Deleuze führt die Unterscheidung imaginär/real letztlich auf die ununterscheidbare Unterscheidung Gegenwartsspitzen und Vergangenheitsschichten zurück und genau jenen ununterscheidbaren Unterschied, will ich den zweiten Aspekt der Narration nennen, die Signifikat und Signifikant zusammenbringt, dergestalt, dass der Signifikant nicht der zum Signifikat passende ist, sondern ein anderer, beide aber dennoch eine Verbindung eingehen. So wird Narration aktuell oder „authentisch“.] Erst in diesem Zusammenfall kann von einer Narration die Rede sein, die zwar nichts Aktuelles (Wirkliches) beinhaltet, selbst aber dennoch wirklich ist. Wie das Ambiente im Teehaus und die Stimme des Erzählers, so wird im Prozess des Erinnerns das tatsächliche Prozessieren zum Rahmen des Geschichtenerzählens. In der Narration trifft das Symbolisierte (Signifikat) das Symbol (Signifikant) und beide zusammen sind dann aktuell und virtuell zugleich. Der zweite Aspekt der Narration beschreibt also das Zusammenfallen von Signifikat und verschobenem Signifikant, und obwohl es sich um ein Zusammenfallen handelt, soll dieser Aspekt der Narration doch das Trennende unterstreichen, denn Signifikant und Signifikat werden nicht eins, sie bleiben verschoben. Anders als der erste Aspekt der Narration liegt hier also keine Ignoranz vor, sondern eher ein Paradox (oder ein Wahnsinn).
Prinzipiell kann nun jeder Film auf dieses Prinzip zurückgreifen, nur dass LA JETÉE die Anwendung im Vergleich zum klassischen Film verkehrt, zumal der Zuschauer die Geschichte auch (aber nicht nur) selbst erzählen muss. Im klassischen Film sieht ein Zuschauer neben dem Film mit seinen spezifischen Bildern eine Metafilm, in welchem er mit seinen eigenen Gedächtnisbildern quasi zum Film wird. Das Echte bzw. Aktuelle wird generiert von den Signifikaten im Zuschauer/seinem Gedächtnis, die von den aktiven Filmsignifikanten angesteuert werden (sie stellen die Verbindung her). In LA JETÉE konstruiert der Zuschauer einen Film, der nicht (zuvorderst) auf sein eigenes Gedächtnis, sondern auf das vom Film gegebene zurückgreift. Das Echtheitserlebnis wird vom Zuschauer selbst oder seinem Bewusstsein, im Prozess des Erinnerns dem Film aktiv zugewiesen. Der Film wird zum Stimulus im Außen der von der Narration im Innen angeleitet wird. Der Film erscheint also echt, weil er als Signifikat und nicht als Signifikant gefasst wird und somit das Erinnern, welches das verschobene Zusammenfallen und somit das Echtheitserlebnis generiert, vom Zuschauer ausgeht. Und dies hat zur Folge, dass der Film ein Stimulus bleibt, getrennt von seiner Erklärung, die nun verschoben im Zuschauer gegeben wird.
Damit LA JETÉE also zum Gedächtnis wird, muss gegeben sein, dass der Film kryptischer und unerklärter (virtueller) Stimulus bleibt:
Dass Bild und Text Informationen geben, die prinzipiell dafür geeignet sind, nicht im anderen aufzugehen, haben bereits die obigen Einzelanalysen gezeigt, denn nichts anderes beschreibt die in sich geschlossene SR. Ihretwegen kann weder Bild noch Text in sich eine kohärente Narration erzeugen, und wenngleich deren Zusammenführung zum Film nicht sr ist, so ist sie doch zerrissen. Wäre sie das nicht, könnte LA JETÉE nicht wie behauptet zum Gedächtnis werden.
Im Folgenden werden nun einige spezielle Momente näher beschrieben, in welchen die Erzählung mehr ist als das Bild und das Bild mehr als die Erzählung, wobei beide Fälle in gewisser Weise unerklärt bleiben, wie Gedächtnisfetzen als Signifikate, auf der Suche nach ihren Signifikanten, welche sie ordnen.
Nach dem Titelbild beginnt die Erzählerstimme zu sprechen und ihre Worte werden als weiße Schrift vor schwarzem Hintergrund eingeblendet. Es gibt für die ersten Sätze der Erzählung also keine Bilder als die Worte der Erzählung selbst. In diesen Worten beschreibt sich das Geschichtenerzählen als solches selbst. Inhaltlich liegt das Bild freilich auf gleicher Linie wie die Erzählerstimme. Die Gesamterzählung wird zur Erzählung in gesprochener Sprache und Schrift, aber eben nicht im Bild, zumindest solange nicht, wie wir Worte nicht als Bilder betrachten. Und weil dies nicht der Fall ist, kann die Sprache nicht in Bildern aufgehen, sie bleibt vom Bild getrennt. Auffallend ist die Nähe zum filmischen Märchen, welches ebenfalls oft mit den typisch einleitenden Worten, gedruckt auf einem abgefilmten Märchenbuch, beginnt. Wichtiger Bestandteil des Märchens ist eben auch das Märchenerzählen, die Stimme des Märchenerzählers, das Ambiente und die Leerstellen.5 Deswegen geht hier die Erzählung nicht im Bild auf, wie das „Es war einmal…“ nicht in das Jetzt der Welt passt und stattdessen wird ein neues, eigenes, zweites Jetzt erschaffen, welches seinen Ausgang nimmt im Umstand des Erzählens. Die Signifikanten der Sprache, die in sich ohnehin paradox sind, werden so die Signifikate des Märchenerzählens.
Die erste Szene am Flughafen zeigt dann sehr deutlich, wie Text und Bild verschiedene Wege gehen, ohne jedoch verschiedene Themen zu beschreiben. Die Szene beginnt mit dem Hinweis, dass es sich um die Geschichte eines Jungen handle, der in diesem Fall drei Dinge zwanghaft erinnere: die gefrorene Sonne, den Schauplatz am Ende der Besuchertrasse und das Gesicht einer Frau. Alles, was bildlich gezeigt wird, sind Fotos dieser Dinge. So kann vermutet werden, dass die Erinnerungen des Jungen genau hierdurch kenntlich gemacht werden, Bild und Wort scheinen sich also noch zu ergänzen.
Dann aber können die Worte nicht mehr in den Bildern aufgehen. Der Erzähler spricht nun von Ereignissen, die erst später, wenn sie zur Narbe geworden sind, zu Erinnerungen werden. Nichts dieser kontemplativen Kommentierung kann bildlich (im Bild) gezeigt werden. Die weitere Äußerung des Zweifels, ob er dieses Bild der Frau wirklich gesehen habe, scheint durch die Bilder zweifelsfrei entschieden zu sein: Die Frau ist zu sehen, und zwar sehr lange und deutlich. Auch wenn die Fotos nur für Erinnerungen zu stehen scheinen, dieses Foto wird gezeigt, also scheint es Erinnerung zu sein, ergo hat er sie wirklich gesehen. Gerade an diesem frühen Punkt des Films ist es unmöglich, all die Implikationen und Andeutungen der Erzählung zu verstehen. Irgendwann später wird dem Zuschauer die Möglichkeit gegeben, vielleicht zu erkennen, dass alle Standbilder Erinnerungen sind, Erinnerungen aber auch falsche Erinnerungen sein können und einer steten Neukombination unterliegen. Ob der Zuschauer diesen Punkt erreicht, ist nicht gewiss, es obliegt ihm selbst, dies zu tun, gewiss ist aber, dass der Film keine Anstalten macht, derlei zu erklären. LA JETÉE arbeitet stattdessen mit kryptischen Hinweisen, die freilich auch verschiedene Deutungen zulassen. Kryptisch werden die Hinweise nun auch dadurch, dass die Bilder entweder nicht in der Lage sind das Gesprochene zu visualisieren, es vielleicht gar nicht wollen, oder aber es exakt visualisieren, allerdings nicht im Gezeigten der Bilder, sondern in der Art des Zeigens selbst. In diesem Abschnitt muss aber die Ebene des Gezeigten betrachtet werden, zumal es darum geht, Momente zu finden, in welchen gerade wegen des Bruchs zwischen Bild und Wort die Aufmerksamkeit auf andere Merkmale, wie z.B. das Zeigen, gelenkt wird. Die Narbe als nachträgliche Erinnerung und der Zweifel am Gesicht der Frau jedenfalls erhalten keinen Einzug in die Welt der gezeigten Bilder, sondern koexistieren in einer anderen Sphäre. Von dort aus wechselwirken sie mit den Bildern in einem mehr korrelativen als kausalem Verhältnis und jeder Betrachter muss sich selbst seinen Reim hierauf machen, als würde er selbst versuchen zu erinnern. Die Szene am Flughafen übernimmt dabei eine Schlüsselrolle, denn sie leitet dieses Erinnern ein und vergeht bis zum Ende nie wirklich.
Darüber hinaus gibt es immer wieder kleinere Momente im Film, die den Text nicht ganz in die Bilder aufgehen lassen. Dieser Fall tritt z.B. immer wieder auf, wenn der Erzähler Ereignisse vorwegnimmt, also gewissermaßen gleichzeitig aus der Gegenwart und der Zukunft spricht. In all diesen Momenten, die in der Textanalyse bereits angesprochen wurden, passiert das gleiche wie oben beschrieben. Textinformation findet sich nicht im Gezeigten des Bildes, weswegen Text selbst zum fragmentarischen Signifikat wird und gleichzeitig auf das Zeigen des Bildes selbst hinweist, was das Bild ebenfalls als „Erinnerungsfragment“ ausstellt und durch die Prominenz des Zeigens und der Machart der Bilder einen einfachen Konsum unterbindet.
Weitere relevante Textstellen sind jene, in welchen der Erzähler in den Protagonisten blickt und auch dessen Gefühle kennt. Diese Informationen aber können durch eine Art interpretativen Blick der Zuschauer in die Bilder hineingelegt werden, was ähnlich dem Kuleshov Experiment funktioniert, nur dass hier die Konditionierung nicht über das vorher gezeigte Bild erfolgt, sondern über das gleichzeitig gesagte Wort. Diese Momente sind hier aber nicht weiter von Belang, zumal sie nicht auf eine Diskrepanz zwischen Bild und Wort schließen lassen, sondern diese eher verschwindend machen. Dies gelingt ihnen, weil die Bilder in diesen Momenten selbst das Individuum/Bewusstsein zeigen, welchem eine Sphäre unterstellt wird, die jene beschriebenen Gefühle aufnehmen kann, auch wenn es nicht faktisch sichtbar ist.
Auf der anderen Seite gibt es nun auch Bilder, die von der Erzählung ausgelassen zu werden scheinen. So sind in einem Moment, als der Mann die Frau in den mentalen Bildern trifft, Kritzeleien an der Wand zu sehen. Im Text heißt es: „They are without memories, without plans.“. Auf dem Bild ist eine mit kindlicher Handschrift voll gekritzelte Wand zu sehen, auf der lediglich einige Worte und Bilder zu entziffern sind: Parisse, Chérie und ein mit einem Pfeil durchbohrtes Herz. Weiter heißt es im Erzählertext: „Their only landmarks are the flavor of the moment they are living and the markings on the walls.” Zu diesen Worten folgen weitere Kritzeleien, diesmal sind es drei Totenköpfe im Stil von Piratenflaggen.
Die poetische Abschweifung im Text (without memories, without plans) wird also auch zur Abschweifung im Bild, wenn Kritzeleien an den Wänden plötzlich Bild füllend erscheinen. Jedoch, was bedeuten das Herz und Chérie und inwiefern passt dies zu Gedächtnis- und Planlosigkeit? Vielleicht mag der Müßiggang einiger Leute/Kinder, die die Wände bemalen, für Gedächtnis- oder Planlosigkeit stehen, aber das Bild gibt mehr Informationen. Ein durchbohrtes Herz, Symbol für die Liebe, das Wort Chérie, zweimal wiederholt. Das ist vielleicht alles belanglos, vielleicht aber auch ein weiteres Rätsel, das LA JETÉE dem Betrachter stellt. Und wieder erhält es seinen kryptischen Charakter, weil Bildinformation und Textinformation nicht ineinander aufgehen, wenngleich sie das gleiche Thema behandeln. Verstärkt wird dies bei den Totenköpfen. Wo die Liebe als Planlosigkeit vielleicht noch im assoziativen Nahverkehr zu erreichen ist, da machen die Totenköpfe als „landmarks“ endgültig stutzig. Entweder hier wird nun wild interpretiert oder es wird einfach unter den Tisch gekehrt. Ist es ein memento mori? Doch schon im memento prallen wir auf das zuvor erwähnte „without memories“. Es muss hier keine Interpretation gegeben werden, die all dies auflöst. Entscheidend ist vielmehr, dass der Text bestenfalls andeutet, was das Bild zeigt, dass das Bild eine Fülle an Information besitzt, die im Text nicht aufgeht und dass der Zuschauer sich auf seine eigenen Hypothesen diesbezüglich verlassen muss, um aus diesem Mix aus Bild und Ton einen kohärenten Film zu gestalten. Also zeigt sich wieder die Nähe zur assoziativen Konstruktion von Erinnerung, wobei Text und Bild von LA JETÉE das Rohmaterial stellen, welches von einem Bewusstsein geordnet werden will und sei es nur die Einordnung unter die Kategorie: Belanglos.
Als die Bilder des Films schließlich zu laufen beginnen, hat die Erzählerstimme scheinbar Sendepause. Nicht mit einem Wort wird dieser außergewöhnliche Moment bedacht, nicht mit einem Kommentar wird diese poetische Situation des beiderseitigen Erwachens vor Vogelgezwitscher gewürdigt. Was den Text betrifft erscheint es gar, als sei dieser Moment nie geschehen. Aber auch auf Seiten des Bildes kann man gar nicht sicher sein, dass dieser Moment zugehörig ist, zumal die Bilder sich ja durch das Laufen vom restlichen Film abheben. Wenn dies nicht Text und nicht Bild ist, was ist es dann? Die Interpretation wird zeigen, dass dies die diegetische Wirklichkeit ist. An dieser Stelle genügt es aber festzustellen, dass nicht nur der Text sich vom Bild und das Bild sich vom Text absetzen kann, sondern sogar der Film (laufend) vom Film (stehend). LA JETÉE hat vermutlich gar nicht den Anspruch, geschlossen zu sein, sondern versucht, sich gegen sich selbst abzusetzen und die Barriere des bloßen Filmseins zu durchbrechen, wie die Proust´sche Heimsuchung der Erinnerung die Barriere der Zeit durchbricht, denn sie überkommt Einen ebenfalls ungefragt und ohne, dass sie gesucht wird.
Eingeleitet wurde diese Szene durch stetig wechselnde Bilder zwischen dem Mann in der Hängematte und den mentalen Bildern der Frau. Hier passen Text und Bild sehr gut zusammen und beschreiben den Taumel, in welchem der Erzähler bemerkt, dass der Mann nicht mehr wisse, ob er diese Welt der mentalen Bilder selbst mache oder ob sie ihn heimsuchten, also wo nicht mehr zu unterscheiden ist, woher die Aktivität kommt, ob es Spiel ist oder Ernst. Der hierauf folgende, laufende Film steht wohl für die Heimsuchung. Marker selbst schreibt: „Die Maschine der Erinnerung ist in Bewegung, schwer in Gang zu bringen, doch schwer zu bremsen; pflückt, immer eiliger, erst präzis, dann ungeordnet, im Vorbeirasen die verschiedensten Wesen, die ungereimtesten Ereignisse – auf eine Ähnlichkeit, einen Gleichklang, einen Ruf hin…“.6 Tode kommentiert dies mit den Worten: „Das aktive „Gestalten“ von Erinnerung, das vielgescholtene Manipulieren der Erinnerung erklärte Marker bereits in seinem Roman zum einzig möglichen Verfahren, um ein wenig Macht und Souveränität über unsere Heimsuchungen zu bekommen.“7 Dieser Moment des Taumels im Film beschreibt demzufolge für den Protagonisten den Wendepunkt zwischen dem Erinnern als Manipulieren und seiner Heimsuchung. Und diese Heimsuchung kann genauso die Gegenwart der Realität sein, nicht umsonst wurde die Funktion der Kinematographie immer wieder mit der Perzeption der Realität verglichen. Aber mehr hierzu in der Interpretation. Nicht aus der Warte des Protagonisten betrachtet, wirkt diese Heimsuchung nun kurioserweise genauso. Auch der Zuschauer wird heimgesucht. Zum einen ist diese Sequenz sehr kurz, man wir quasi überfallen, traut seinen eigenen Augen nicht. Was aber weitaus wichtiger ist, ist, dass dieser Einschub unerklärt und ohne Text auskommen muss, dass seine Raserei nicht gestoppt werden kann, aber doch gerahmt werden muss, und zwar vom Zuschauer, denn er präsentiert sich als weiteres fragwürdiges Fragment, das aus dem Rahmen des Films zu fallen droht. Dieses Fragment (trotz Bewegung) wird wie die anderen Stellen im Film, an denen Bild und Text getrennte Wege gehen, zum Gedächtnis des Zuschauers und will von ihm geordnet werden. Nur lässt es wenig Luft, dies zu tun, ordnet sich zumindest in sich selbst und es erscheint denkwürdig, dass es dieser Moment ist, welcher LA JETÉE immer wieder den Beinamen „Liebesfilm“ einbrachte (auch bei Tode sind derlei Anklänge zu hören). Denn hier streiten Ernst und Spiel, Vorsatz und Absichtslosigkeit, Verkostung und Verkostet-Werden – und das Tödliche, die Heimsuchung des Verkostet-Werden, scheint zu gewinnen, denn die Bilder laufen. Dies Brutale scheint die Liebe zu sein, aber eben auch nicht, denn der Ernst geht nicht leer aus, wie die Interpretation zeigen wird.
Am augenscheinlichsten wird es für den Moment, als die Probanden die Statuen betrachten. Diese Situation wird unter dem Punkt „Mit den Augen der Statuen“ interpretiert.
Die Statuen finden bildlich zweimal Erwähnung, für den ersten Probanden und für den Mann der Erzählung. Beide Male verstummt die Erzählerstimme für die Momente, in welchen die Männer die Statuen betrachten. Für den ersten Mann lautete das letzte Wort vor dieser Sequenz: „madness“. Danach schweigt die Stimme, Musik füllt den Hintergrund. Der zweite Mann wird erneut als der Protagonist der Geschichte vorgestellt, dann schweigt die Stimme ebenfalls, jedoch wird keine Musik, sondern ein Herzschlag eingeblendet. Zum Thema Statuen verliert die gesamte Erzählung aber kein Wort. Andere Statuen sind allerdings später in einer Erinnerungssequenz zu sehen. Hierzu heißt es: „A museum. Perhaps the museum of his memory.“. Statuen selbst finden also keine Erwähnung, obwohl sie so häufig in Erscheinung treten. Die gegebene Verbindung Statuen – Museum – Erinnerung lassen eher an Markers eigenes Gedächtnis denken, der ja bereits einen Film über Statuen drehte. An dieser Stelle ist also Protagonist, Erzählerstimme und Filmemacher kaum mehr zu unterscheiden, zumindest was ihr Gedächtnis betrifft.8 Allerdings werden auch dadurch die beiden Szenen mit den Statuen nicht geklärt, es wird lediglich ein später Hinweis gegeben, dem der Zuschauer (und ich) dann in der Interpretation nachgehen kann. LA JETÉE selbst erreicht hier aber vor allem eins, nämlich das Stutzig-Machen des Zuschauers. Was bedeuten die Worte Tête apôtre, was bedeuten die behauenen Steine und Statuen, warum wird dies so ausführlich und wiederholt gezeigt und findet doch in der Erzählung scheinbar keinen Platz? Die Gesamtnarration von LA JETÉE ergibt sich nicht von selbst, sie will gemacht werden.
Erst nach der Interpretation wird sich zeigen, dass das beste Beispiel für ein Bild, welches nicht in der Erzählung aufgeht und eine Erzählung, welche im Bild keine Erwähnung findet, das spiegelbildliche Verhältnis zwischen der Szene des Protagonisten mit den Statuen und der Szene seiner Befreiung durch die Menschen aus der Zukunft ist. So viel sei aber schon hier verraten: Die Worte „Sometime after his return, he was transferred to another part of the camp.”, finden kein bildliches Äquivalent. Beschrieben wurde dieser Moment aber bildlich für seinen Vorgänger, eben in dessen Szene mit den Statuen. In jener Szene seines Vorgängers aber fehlte die textliche Beschreibung dessen, was gerade passiert und den Vorgang mit den Statuen erklärt. Nun kann also, zeitlich versetzt, von den passenden Worten für diese Szene mit den Statuen die Rede sein, in dem Moment, als der Protagonist zu den Menschen der Zukunft flieht.
Die Szene des ersten Probanden mit den Statuen zeigt also ein Bild, welchem der Text fehlt. Die späte textliche Erklärung für dieses Bild folgt in einem Moment, in welchem der Text dann nicht zum Bild passt, nämlich als der Protagonist in die Zukunft flüchtet. Detaillierter wird dies in der Interpretation zu erörtern sein, im Moment genügt es, erneut festzustellen, dass der Film die Konstruktion der Narration auf Seiten des Zuschauers durch seinen stetigen Widerstand gegen ein einfaches Verstehen toujours fordert. Gedächtnis (als Fragment) ist also allein kein Garant für Erinnerung, solange die Narration sich selbst ausstellt.
- Laut Scherer thematisiert Marker die Umschrift der Vergangenheit explizit: „Im Rahmen seiner erkenntniskritischen Haltung ist der Film für Marker Gedächtnismedium, aber immer unter der Voraussetzung, dass die medialen und historischen Bedingungen dieses Gedächtnisses mitbedacht werden: Bedingungen, die den Film letztlich zu einem fiktionalen Gedächtnis machen.“ In: Scherer, Christina: Ivens, Marker, Godard, Jarman, Seite 141. ↩
- Allerdings sei hier angemerkt, dass der Signifikant Baum nicht mit seinem korrespondierenden Signifikat (dem echten Baum) zusammentrifft, sondern mit dem Signifikat des Erinnerns selbst, welches als einziges „echt“ ist. Symbol und Symbolisiertes treffen sich also nur uneigentlich, denn es findet eine Verschiebung statt, wenngleich beide dennoch eine Verbindung eingehen. ↩
- Wie Markers oft erwähnte Narbe. Vgl. auch: Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild: „Es handelt sich also um Verzweigungen der Zeit, die der Rückblende eine Zwangsläufigkeit und den Erinnerungsbildern eine Authentizität, die Last einer Vergangenheit geben, ohne die sie konventionell bleiben. Aber weshalb geschieht das, und wie? Die Antwort darauf ist einfach: Die Verzweigungspunkte sind meistens für die Wahrnehmung derart unzugänglich, dass sie sich erst im Nachhinein einem attentiven Gedächtnis enthüllen können. Es handelt sich um Geschichte, die nur in der Vergangenheit erzählt werden kann.“ Seite 72. Was Deleuze hier zur Rückblende schreibt, gilt meiner Meinung nach für jede Geschichte, was nicht bedeutet, dass eine Geschichte nicht „konventionell“ gefasst werden kann. Ob dies jedoch der Fall ist, hängt, wie diese Arbeit zu zeigen versucht, davon ab, ob das Bewusstsein, welches die Geschichte erlebt, diese selbst konstruiert oder nicht, was Deleuze mit seinem attentiven Gedächtnis vermutlich auch schon andeutet. Anders verhält es sich mit der „Authentizität“ des Erinnerungsbildes, die, wie die nächste Fußnote erläuten wird, nun nicht erst an dieses Attentive gebunden, sondern jeder Narration gewissermaßen immer schon inhärent ist. ↩
-
Hier zeigt sich in meiner Beschreibung von Narration erneut eine mögliche Parallele zu Deleuze’s Zeitbild. Zu L’ANNÉE DERNIEÈRE Á MARIENBAD bemerkt Deleuze: „Das Imaginäre [alles ereignet sich nur im Kopf ↩
- Siehe: Anhang – Märchen, Seite 105. ↩
- Marker, Chris: Die Untrüglichen, Frankfurt a. M. 1951, Seite 14, übernommen aus: Tode, Thomas: Phantom Marker: Inventur vor dem Film, in: Chris Marker, Filmessayist, Seite 50. ↩
- Ebenda. ↩
- „Anders als die Filme seiner Kollegen Truffaut oder Chabrol sind Markers Filme immer filmes d’essai geblieben, experimentelle Filme, deren Bilder persönliche Eindrücke „erfahrener“ Wirklichkeiten ihres Autors wiedergeben.“ In: Paech, Joachim: Anmerkung zu LA JETÉE, Seite 63. ↩