Wachsein im Traum – Theoretische Überlegungen, Analyse und Interpretation von Chris Markers LA JETÉE

Einleitung

Es ist Montag, Sie sitzen auf einem roten Kissen, welches auf einem schweren Orientteppich liegt, am Festungsgraben 1 in Berlin Mitte. Um Sie herum das Klimpern von Teegeschirr. Der Duft vieler verschiedener Teesorten in der Luft, der langsam sich entfaltende, vom letzten Schluck Tee zurückgebliebene Geschmack von Kandis auf der Zunge und der Geruch der schweren, bunten Stoffe, der je mehr in Ihre Nase steigt, desto mehr Sie sich in die Horizontale begeben, auf Ihrem Kissen, um entspannt den Worten der Geschichtenerzählerin zu lauschen: Märchenhafte Teestunde in der Tadshikischen Teestube!

Der Seminarraum wird verdunkelt, die Studenten kommen langsam zur Ruhe, dann beginnt der Film. Nach kurzer Zeit sind Sie völlig gebannt von dieser merkwürdigen Diashow, die sich „Fotoroman“ nennt. Sie haben das Gefühl, Sie müssten diesem Film selbst helfen, um sich fortzubewegen. Die Worte des Erzählers würden Sie am liebsten mit eifrigem Nicken und fuchtelnden Handbewegungen kommentieren und dabei selbst die Rolle des Protagonisten übernehmen, der sich jetzt gerade in derselben Show befinden muss wie Sie, in einer merkwürdigen Diashow schwer erklärbarer Bilder, deren Verständnis Sie erreichen müssen. Die Stimme hilft Ihnen dabei nur bedingt, gibt sie doch mehr Andeutungen als Antworten, mehr Rätsel als Erklärung. Die Bilder brauchen Ihre Hilfe, um verstanden zu werden. Der Erzähler braucht Ihre Anwesenheit, um verstanden zu werden. Der Film braucht Sie, um Film zu werden. Und obwohl Sie so viel in den Händen halten, sind Sie ihm doch ausgeliefert, können ihm nicht entrinnen und das Unvermeidliche nicht vermeiden. Verwirrt blicken Sie im Seminarraum umher, um die wissenden und verstehenden Blicke der Kommilitonen zu erhaschen, als eine stille, unausgesprochene Absprache, doch in der Dunkelheit ist kaum jemand auszumachen und es scheint auch nicht, als würde irgendjemand sonst Ihren Blick suchen. Sie sind ganz allein, ganz wach, ganz da und trotzdem ganz mit dem Film und es brennt unter den Nägeln und kribbelt in den Fingern. Doch dann geht wieder das Licht an: Sichtung von LA JETÉE!

So verschieden die Erlebnisse, so deutlich die Gemeinsamkeit: Wie in einer (Märchen-) Erzählung die Gegenwart des Erzählers, ihres eigenen Körpers und der sie umschließenden Umwelt konstitutiv wird für das Erlebnis, so ist LA JETÉE, obwohl er sie in bester Kinomanier im Dunkeln sitzen lässt, ein Film, der ebenfalls ein Erlebnis kreiert, welches die Gegenwart der Erzählung und Ihres eigenen Dauerns stark macht und Sie somit aus einer immersiven Haltung vertreibt, Sie in eine interaktive drängt, dabei aber nicht die Fiktion schwächt, sondern stärkt, entgegen aller Annahmen zur Interaktivität. Dies gelingt, weil Sie zwar interaktiv gefordert werden, aber nicht in ihrer Realität, sondern im „Zwischenraum der Gegenwart“: An einem Ort, der Wachheit und Aufmerksamkeit ermöglicht, genauso wie er Fiktion fördert. Es ist der Ort zwischen Ihrer Realität und der Fiktion, jener Ort, der alle Tribute fordert, die Sie Ihrer Realität zollen, um damit die Fiktion zu stärken. Es ist der gefährliche Ort einer starken emotionalen Macht. Der Ort, an dem Traum und Wachsein sich die Hände reichen und Sie mit einer hysterischen Erregung allein lassen, vereint im Traum der Einheit mit der Welt.

Jener dunkle Zwischenraum begegnet uns, wenn unser Team Fußballweltmeister wird – und wir mit ihm; in einem Gefühl der Einheit, begleitet von der individuellen Erregung, die keine andere Entladung findet als eben im Ausdruck dieses gemeinsamen Triumphes, oder wenn sich das Volk durch und für und mit einer Person, also allein und dennoch einheitlich, in hysterischem Überschwang, für den totalen Krieg entscheidet oder wenn die Mauer fällt, die ein Volk über Jahre entzweite, und der kollektive Traum von Freiheit zum individuellen Gefühl der Freiheit wird, das aber nicht anders gefasst und erlebt werden kann als im gemeinsamen Fest.

Jener dunkle Zwischenraum ist also ein Ort, der Einsamkeit und Einheit bindet, aber eben auch vor allem ein Ort, der Traum und Wachsein zusammenführt. Dabei ist das Wachsein immer einsam, der Traum aber gemeinsam, denn seine Bilder überschreiten die Perspektive.

LA JETÉE, so die These, findet an solch einem Ort statt und Ziel dieser Arbeit ist es, zu zeigen, wie und warum LA JETÉE es erreicht, gleichsam so wirklich und erweckend zu sein, dabei aber die Fiktion der eigenen Erzählung nicht schwächt sondern stärkt.

Hierzu muss die spezielle Machart von LA JETÉE genau hinterfragt werden, weswegen das erste theoretische Kapitel sich mit der Frage beschäftigt, welche Unterschiede sich zwischen einem „normal“ bewegten Film und LA JETÉE ergeben. Dieser Unterschied zwischen Foto und Film wird zur Erkenntnis führen, dass Foto, um verstanden zu werden, eher zur Zuschaueraktivierung führt als Film, also das Wirklichkeitserlebnis oder Wachsein stärkt.

Das zweite, analytische Kapitel versucht dann herauszufinden, wie sich die Fiktion dennoch so gut etablieren kann. Dies geschieht anhand der Analyse des Erzählertextes von LA JETÉE und dessen Zusammenwirken mit den Bildern. Dabei wird sich zeigen, dass die selbstreferentielle Art der Erzählung dem Zuschauer wie schon bei den Fotos mehr Engagement abverlangt als eine nicht selbstreferentielle Erzählung. Dass die Fiktion hiervon dennoch gestärkt wird, liegt daran, dass die Interaktivität nicht „in“ der Erzählung stattfindet, sondern als Erzählung.

Im letzten Teil, der Interpretation von LA JETÉE, wird versucht, mit den Erkenntnissen dieser Arbeit die Story des Films neu zu schreiben und die entscheidenden Besonderheiten dementsprechend zu deuten.

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