2.1.2. Selbstreferentialität der Bilder
Folgende Analyse entstand aus der Sichtung des Bildmaterials von LA JETÉE ohne jeglichen Ton. Die Suche nach Selbstreferentialität richtet sich, wie sich aus dem nachfolgenden Text ergeben wird, vor allem auf das Aufspüren von Bewegungen und die Art und Weise, wie die Bilder aneinander montiert wurden. So soll gezeigt werden, dass LA JETÉE auch auf Bildebene immer wieder darauf hinweist, dass – im Hinblick auf die Montage – ständig eine Geschichte erzählt bzw. konstruiert wird, und dass – im Hinblick auf das einzelne Bild – immer wieder die plakative Bildhaftigkeit der Bilder selbst angesprochen wird.
Das Eröffnungsbild, welches gleichzeitig den Hintergrund für die Titel bildet, ist die Besuchertrasse vom Flughafen Orly. Es handelt sich um eine Totale, von oben aufgenommen. Dabei wird das Bild ausgezoomt, wobei eine nicht spürbare Fahrt nach links den rechten Rand des Fotos fixiert und so den Eindruck erweckt, das Bild würde sich nach links erweitern. Dieses Bild geht dem Film voran und wird von ihm abgegrenzt durch zwei Texteinblendungen, welche die ersten Sätze der Erzählung darstellen.
Dadurch, dass die räumliche Perspektive des Fotos sich bei Zoom und Fahrt nicht verändern kann, stellt sich das Bild selbst als Bild/Foto aus. Nirgends im Film geschieht dies so deutlich wie hier, dass ein Bild sich gleich in Abgrenzung zu zwei Bewegungen als Bild enttarnt. Es verweigert die Anpassung an die Messung/Bewegung, mit welcher es von der Kamera geprüft wird. Wie unter „Die Fahrt vom Triumph zur Zerstörung“ bereits erkannt wurde, kann ein Bild, allein betrachtet, also ohne Vorgänger- und Nachfolgebild, zweierlei Effekte zeitigen: Es kann als gerahmtes Foto verkostet werden, also in die geistige Sphäre des Ernst fallen. Dies macht das Bild veränderlich. Oder aber es findet eine Bewegung statt, dann verkostet/verändert das Bild eher den Zuschauer, in der Sphäre des Spiels. Das Bild wird dadurch eher unveränderlich. Ersteres (wenn das Bild allein betrachtet wird) wie Letzteres scheint nicht auf Selbstreferentialität hinzudeuten, zumal die Ignoranz der beiden Betrachtungsweisen eine einseitige Perspektive eröffnet. Aber wenn beides gegeben ist, wenn das gerahmte Bild eine Bewegung erfährt, dann handelt es sich um Ernst und um Spiel, um eine Art Taumel. Und hier kann von Selbstreferentialiät die Rede sein, denn die Verkostung des Bildes wird durch die Bewegung enttarnt (das Bild wird durch die Rahmung im Bewusstsein des Zuschauers veränderlich, aber die Bewegung weist wieder auf das Unveränderliche hin, aus der Perspektive des Zuschauers betrachtet), wie das Verkostet-Werden der Bewegung durch die Rahmung enttarnt wird (das Bild wird durch die Bewegung unveränderlich, aber die Rahmung stoppt diese Bewegung und macht das Bild wieder veränderlich, aus der Perspektive des Zuschauers betrachtet).
Um den Taumel zu unterstreichen muss noch hinzugefügt werden: Das gerahmte Bild ist veränderlich, weil der Zuschauer es verändert, obwohl es steht, und das Bild mit Bewegung ist unveränderlich, obwohl es Bewegung gibt, weil es den Zuschauer bewegt. Wenn also das gerahmte Bild mit Bewegung sich weigert, sich der Messung der Bewegung/Kamera anzupassen, so ist es selbstreferentiell in dem Sinne, dass es die jeweils andere Art der Veränderlichkeit ausstellt und damit sein eigenes Funktionieren thematisiert.
Sobald die Kamera zum Stillstand gekommen ist, beginnt die Einblendung der Titel. Diese erscheinen immer an der gleichen Stelle, rechts unten, und Überlagern sich bei der Ein- und Ausblendung für einen Moment, so dass ein unlesbares Gewirr aus Buchstaben, ähnlich einem Palimpsest mit transparentem Trägermaterial entsteht.
Schrift erscheint wie Bild an sich unbeweglich, und wie das Foto sich nicht der perspektivischen Anpassung der Kamerabewegung beugt, so bleibt die Schrift gegenüber der Blendbewegung auch unbewegt, was zu einer kompletten Unlesbarkeit führt, für einen Moment zumindest. Dadurch werden also selbst die Worte als bloße Bilder enttarnt, die, sobald sie aufgrund der Unlesbarkeit ihre symbolische Wirkung verlieren, keinerlei Mehr an Bedeutung hervorbringen als ihre eigene Form. So stellen Bild und Wort in diesem Titelbild bereits ihre Symbolkraft in Frage.
Danach folgen stehende Aufnahmen des Flughafens. Besondere Beachtung findet hierbei ein kleiner Junge, der auf dem Geländer steht, zumal ihm zwei Bilder gewidmet sind. Einmal ist er von hinten zu sehen, das andere Mal seine Beine. Noch prominenter tritt eine Frau in Erscheinung. Zwar ist nicht zweifelsfrei auszumachen, ob die Naheinstellung des Gesichts dieser Frau auch mit der vorhergehenden Totalen einer Frau korrespondiert, aber allein die Tatsache, dass dieses Bild fünfmal länger steht als alle bisher gezeigten Bilder, räumt ihr einen wichtigen Platz in der Betrachtung ein.
Es folgen schnelle Bildwechsel: ein Flugzeug im Himmel, erneut die Frau, diesmal erschreckt, wieder die Frau und ein Mann mit merkwürdiger Körperhaltung, dann Bilder von unbekannten Gesichtern und schließlich ein verschwommenes Bild von einem Flugzeug am Boden, das erstmals ausgeblendet wird, nach Schwarz.
Diese Sequenz ist klar narrativ. Irgendetwas ist geschehen, wenngleich es unmöglich zu erkennen ist, was. Dabei spielt die Frau mit Sicherheit eine wichtige Rolle, vermutlich auch der kleine Junge und eventuell auch der Mann mit der merkwürdigen Körperhaltung. Die Bilder wiederholen also Personen, ändern in ihrer Abfolge den Rhythmus und vor allem auch den Gesichtsausdruck der Frau. Auch die gemeinsame Blickrichtung aller Personen und ihr verstörter, neugieriger Gesichtsausdruck untermauern ein Geschehnis.
Wo also die ersten Bilder lediglich ein Sammelsurium von Fotos zum Thema „Flughafen“ waren, gehen sie nun eine lineare, narrative Bindung ein. Es ist nun eine Frage der Definition, ob dies „selbstreferentiell“ genannt werden kann oder nicht. Um eine SR1 im Sinne des auf sich selbst verweisenden und sich als Bild ausstellenden Bildes handelt es sich nicht. Aber da nun mehrere Bilder eine Referenz zueinander nehmen, wird zwar nicht das Bildsein, wohl aber der lineare und inhaltliche Zusammenhang ausgestellt. Dementsprechend ist von einer SR auf inhaltlicher Eben die Rede. Das Gezeigte wiederholt sich teilweise in den Bildern (die Frau) und nimmt somit auf sich selbst, also auf das Wiederholte, Bezug. Was nun sr ist, also Bezug nimmt auf seine eigene Machart, ist die Narration, die aus dem Bezug zwischen den Bildinhalten entsteht, und vor allem die Tatsache, dass die Machart von LA JETÉE die Narration als eine klar wahrnehmbare Sukzession von Einzelbildern ausstellt. Sr ist also, dass der Bezug, auf dem die Narration aufbaut, gezeigt wird. Narration selbst ist deswegen nicht zwingend sr, auch wenn sie immer so funktioniert. Folgt man nun der Narration, ist eher vom „Spiel“ die Rede, gleichzeitig kann aber immer auch die Konstruktion selbst erkannt werden, was eher dem „Ernst“ zuzuordnen ist.
Jeder bewegte Film arbeitet mit dieser Bezugnahme, wenn er den Eindruck fließender Bilder erweckt. Aber nicht jeder Film lässt so deutlich erkennen, wie die Narration entsteht. Deswegen kann hier von einer SR der Montage die Rede sein, die auch für bewegten Film denkbar ist (Montage kann sich ausstellen durch Blenden, Effekte, Ruckeln usw.), aber auf so grundlegendem Niveau, also zwischen den Einzelbildern, durchaus einen bemerkenswerten Effekt erzeugt. Dieser Effekt ist nun, dass im Gegensatz zum bewegten Film erkannt werden kann, dass die narrative Verbindung zwischen den Bildern keine zwingende ist, sondern eine, die sich durch Auslassungen und Leerstellen konstituiert. Und mit jedem Bild, das sich im Kopf des Zuschauers mit einem zweiten Bild verbindet, kann dieser wissen, warum diese Verbindung entstand: z.B. deshalb, weil in dem einen Bild die gleiche Frau zu sehen ist wie im darauf folgenden. Er kann dadurch aber auch wissen, dass die narrativen Schlüsse, die er hieraus zieht, Hypothesen sind, denn er weiß nicht, was wirklich zwischen den Bilden passiert, sieht aber sehr deutlich, dass es da ein Zwischen-den-Bildern geben muss.
Dieser Effekt ist sehr gut spürbar, wenn LA JETÉE ohne Ton angesehen wird. Es wird zu einer Art Rätselraten, um der Narration auf die Schliche zu kommen. Ähnlich ergeht es einem Zuschauer jüngerer Generation2 beim Sehen eines Stummfilms, sofern dieser nur spärlich mit Zwischentiteln operiert, oder aber wenn sie im Fernsehen einen Film ohne Ton zu verfolgen versuchen, was sogar noch schwieriger ist3.
Jedenfalls wird in LA JETÉE dieser Grundzug der Narration durch die Verwendung der klar erkennbaren Einzelbilder ausgestellt, weswegen ganz allgemein erkannt werden muss, dass alle narrativen Momente, welche sich aus der Bezugnahme der Bildinhalte aufeinander ergeben, sr sind oder besser gesagt, zumindest das Potential haben, immer daran zu erinnern, dass eine Geschichte erzählt wird, wobei das Einzige, was zweifelsfrei erkannt wird, nicht die hypothetische Geschichte ist, sondern DASS eine Geschichte erzählt wird. In der weiterlaufenden Analyse soll dies nicht für jeden narrativen Zusammenhalt von neuem beschrieben werden, wenngleich es immer wieder so funktioniert.
Die nachfolgende Sequenz von Bildern der Zerstörung ist durch ein langes Schwarz vom ersten Teil getrennt. Es findet keine so klare narrative Bindung wie oben beschrieben statt, lediglich das Motiv der Zerstörung bleibt als Gemeinsamkeit. Auffallend sind die langsamen Überblendungen der Bilder ineinander, die allerdings keine SR darstellen, sondern eher das Gegenteil, also zu einem Fluss führen, zumal das Dazwischen verschwindet.
Das Bild mit der Fahrt über den Triumphbogen wurde bereits erläutert und soll nun nicht noch einmal beschrieben werden. Es gilt, dass Verkostung aktiv und passiv stattfindet und deswegen eine SR vorliegt.
Nach einem kürzeren Schwarz folgen wieder hart geschnittene Bilder eines Tunnelsystems. Bald fügen sich Personen hinzu und es finden wieder narrative Verknüpfungen nach dem oben erkannten Muster der SR statt.
Auffallend ist eine einzige weiche Überblendung, von dem Gesicht eines Mannes auf ein weiteres Bild in derselben Umgebung, aber eben ohne den Mann (5:42)4. So entsteht die mögliche Assoziation, der Mann würde verschwinden.
Deswegen sei an dieser Stelle kurz auf eine Übersicht verwiesen, wie Übergänge der Bilder prinzipiell in LA JETÉE verwendet werden, auch wenn dies dem Fortlauf der Analyse schon etwas vorgreift und erst am Ende wirklich gesichert behauptet werden dürfte.
Wir begegneten bisher also harten Schnitten, Schwarzblenden und auch Überblendungen. Die Schwarzblenden schienen am ehesten dafür verwendet zu werden, einzelne Teile des Films von anderen zu separieren, und seien es nur einzelne Bilder. Jedenfalls wird die direkte Verbindung des einen zum anderen Bild durch das Schwarz in der Mitte und die dadurch vergehende Zeit extrem erschwert. Da dies auch im weiteren Film so zu deuten ist, können Schwarzblenden als Kadenzen im Film betrachtet werden, die einzelne Teile voneinander separieren und so nicht sr Narration entstehen lassen, sondern sowohl die Narration in größerem Maßstab ordnen als auch jede mögliche Verbindung im Einzelbildbereich zunichte machen.
Harte Schnitte finden meist dahingehend Anwendung, dass sie eine sr Narration entstehen lassen, also unter Verweis auf Ähnlichkeit und Differenz eine Verbindung erstellen, weswegen ihre Reihenfolge und Schnittfrequenz enorm an Bedeutung gewinnt.
Allerdings tauchen sie auch als eine Art Vorläufer der Narration auf, immer dann, wenn sie Bilder zu einem gewissen übergeordneten Thema zeigen (Flughafen, Park usw.) die wie eine Art establishing shot funktionieren, also nicht in konkreter Reihenfolge bzw. Rhythmik zusammenhängen, sondern lediglich das große Thema verbindend wiedergeben.
Überblendungen schaffen eine Verbindung und eine Trennung gleichzeitig. Anders als bei den Schwarzblenden ist das Kriterium für die eine oder andere Funktion aber nicht der Mikro- oder Makrokosmos der Narration. Verbindend wirken sie dann, wenn sie Bilder, die nicht linear, narrativ geordnet sind wie etwa diverse Aufnahmen, zu einem Thema (Zerstörung), ineinander verschmelzen lassen. So wird also, wie auch bei den „establishing shots“ der harten Schnitte, ein größeres Thema wiedergegeben. Allerdings behindert der Ablauf des Zerschmelzens bei geblendeten Bildern stärker das Potential zur SR als bei hart geschnittenen, da Erstere vergessen lassen, dass die Verbindung der Bilder hypothetisch konstruiert wird. Die fehlende Reihenfolge wiederum lässt dieses Flusserlebnis diffus erscheinen, wie einen bewegten Film ohne erkennbare Narration.
Eher trennend wirken Überblendungen dann, wenn die Reihenfolge der Bilder von Bedeutung ist. Ist etwa zwischen zwei hart geschnittenen, linearen, narrativen Sequenzen eine Überblendung als Übergang geschaltet, so beschreibt der Wechsel von einer Sequenz zur anderen zwar einen Zusammenhang, aber eben auch die Verschiedenheit von einem direkten Zusammenhang, weswegen dieser Übergang eher trennend wirkt (z.B. der Wechsel von einer hart geschnittenen Sequenz im Experimentierraum zu einer hart geschnittenen Sequenz in der Vergangenheit oder Zukunft).
Damit zurück zum Gesicht des Mannes, der mit einer einzelnen Blende in einer ansonsten hart geschnittenen Sequenz verblasst. Betont wird hier also womöglich eine Trennung der einen von der anderen Sequenz und tatsächlich ist es so. Das Bild, auf welches geblendet wird (5:52), ist ein leerer Gang. Das gleiche Bild wurde schon einmal verwendet (4:30). Wie sich herausstellen wird, wiederholt sich nun das Experiment mit einem anderen Mann. Allerdings wäre es nicht nötig gewesen zu überblenden, denn die Narration verläuft linear weiter.
Der spezielle Effekt, der sich mit der Überblendung einstellt, ist nun jener, dass der Mann, welcher den gleichen Gang hinaufkam und das Experiment über sich ergehen ließ, tatsächlich verschwindet, denn die Blende beschreibt einen Wechsel, aber der Ort und die Handlung wechseln nicht, sondern bleiben linear. Nur so erklärt sich diese Blende an merkwürdigem Ort. Ein laufender Film hätte das Verschwinden einfach dadurch zeigen können, dass die Person in einem Moment aus den laufenden Bildern verschwindet, LA JETÉE verfährt eben seinen Mitteln entsprechend anders.
Nach einigen harten Schnitten folgt eine weitere einzelne Überblendung, nach welcher dieser Mann nun auch den Platz in der Hängematte von seinem Vorgänger übernommen hat. Auch hier erscheint die Überblendung fragwürdig. Jedoch wird sich im Laufe des Filmes herausstellen, dass der Mann diese Hängematte eigentlich nie wieder verlassen wird, weshalb die Überblendung abermals, als Übergang zweier verschiedener Stadien, Sinn macht.
Nach einem Schuss-Gegenschuss-Verfahren mit harten Schnitten, welches auf ein Gespräch zwischen dem Mann in der Hängematte und einem anderen Mann in der Höhle hindeutet, tauchen plötzlich wieder Bilder desjenigen Mannes auf, der vor ihm in der Hängematte lag. Es handelt sich um die gleichen Bilder, die bereits vorhin schon zu sehen waren. Sie haben auch die gleiche Reihenfolge, jedoch sind Auslassungen festzustellen, sie wurden also zeitlich gestrafft (7:10 bis 7:34). Da die Bilder des ersten Mannes teilweise wiederholt wurden, im nächsten Schnitt aber wieder der zweite Mann in der Hängematte liegt, kann es sich um eine Art Rückblende handeln, oder um Erinnerung, denn offensichtlich ist dieser erste Mann eigentlich nicht mehr anwesend, es sei denn, er befindet sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort in einem parallelen Universum. Die Tatsache der Wiederholung der Bilder lässt dies jedoch unwahrscheinlich erscheinen.
Wenn nun vorhin Überblendungen verschiedene Stadien markierten, so stellt sich die Frage, warum dieser Rückgriff hart eingeschnitten wird.
Es kann zum einen damit erklärt werden, dass diesmal kein echter Wechsel stattfindet, also der erste Mann nicht tatsächlich anwesend ist. Vorhin wurde der echte Wechsel mit einer Blende markiert, nun findet ein „vorgestellter“ Wechsel statt, der hart geschnitten ist. Auf frappierende Weise zeigt sich – vor allem, wenn der Film ohne Ton gesehen wird – wie sehr die Entscheidung für einen harten Schnitt dazu beiträgt, Verwirrung zu stiften, ganz einfach deswegen, weil Erinnerung und Gegenwart bzw. Rückblende und Jetzt nicht nur an sich ununterscheidbar sind, sondern auch nahtlos ineinander übergehen. Und dies ist bereits die zweite Erklärung, warum hier hart geschnitten wird: Vergangenes kann jederzeit ununterscheidbar im Gegenwärtigen auftauchen, allerdings kann sein Ablauf (Narration) manipuliert werden, wie in diesem Fall die zeitliche Straffung verdeutlicht. Der Mann wird während des Experiments genau dies erlernen und eben dies beschreibt auch eines der Hauptthemen von LA JETÉE, nämlich die Umschrift der Erinnerung wegen der Ununterscheidbarkeit von Vergangenheit und Gegenwart.
Zurück beim zweiten Mann ist in einer Folge hart geschnittener Bilder zu sehen, wie ihm eine Spritze injiziert wird, ein anderer Mann dreht einen Regler und es setzt erneut eine einzelne Überblendung ein (8:40), die den Mann in der Hängematte langsam von einem Moment ohne Augenklappe in einen Moment mit Augenklappe versetzt. War der Übergang in die Hängematte bereits eine Überblendung wert, zumal er diesen Zustand nie mehr verlassen wird, so bedeutet die Augenklappe ebenfalls einen Übergang in eine ganz besondere Sphäre, wie im Gliederungspunkt „Mit den Augen der Statuen“ näher beschrieben wird.
Die Frequenz der folgenden Bilder wird immer höher, während der Mann in der Hängematte seinen Kopf in immer mehr Richtungen reckt, mit schmerzvollem Gesichtsausdruck. Dann wird diese Sequenz beendet, durch eine Blende auf Schwarz.
Die folgenden Bilder scheinen zusammenhangslos und werden, immer aus dem Schwarz kommend, ein- und ausgeblendet. Sie zeigen eine Landschaft, ein Zimmer, ein Kind, Vögel, eine Katze und auch wieder den Flughafen, dann einen See. Der See nun wird in das Bild einer Frau eingeblendet, ohne das Schwarz dazwischen, und diese Bilder erhalten damit einen anderen Zusammenhang als die anderen (11:09). Auch die folgenden Bilder verfahren mit dieser Überblendung, wobei noch drei weitere Male eine Frau eingeblendet wird. Ob es sich immer um dieselbe Frau handelt, kann nicht bestimmt werden, aber eines der Bilder zeigt erneut eine Frau auf dem Flughafen. Abgeschlossen wird diese Sequenz durch eine erneute Blende auf Schwarz (11:33). Was diese Sequenz letztendlich zu zeigen scheint, ist das Auftauchen von zusammenhangslosen Bildern (mit Schwarz getrennt), die dann, vor allem über das Erscheinen einer Frau, durch Blenden gebunden werden, als würde hiermit schon angedeutet, dass es die Perspektive ist, welche die Ordnung und die Narration erschafft, wobei diese so lange unbestimmt bleibt (geblendet), solange die perspektivische Fixierung (ist es die gleiche Frau?) noch nicht gesichert ist.
Statuen nackter Frauen folgen als Überblendungen in der nächsten Sequenz, das letzte Bild jedoch ist der Kopf einer Statue, der mit Hilfe eines Matchcuts zurück auf den Kopf des Mannes in der Hängematte geblendet wird, danach beendet eine erneute Blende auf Schwarz (12:09) die Sequenz. Diese narrativ eher lose gebundenen Bilder, welche eingeblendet werden, seit der Mann mit Augenklappe auf der Hängematte liegt, erhalten gerade durch diesen Matchcut des Kopfes zum ersten Mal eine (trennende) Verbindung zum Mann in der Hängematte, genauer zu seinem Kopf mit den verdeckten Augen.
Wieder erscheint eine sehr kurze, hart geschnittene Sequenz (von Schwarz kommend eingeblendet), die den Mann in der Hängematte mit der Augenklappe zeigt.
Das letzte Bild wird überblendet auf denselben Mann, diesmal aufrecht stehend, ohne Augenklappe. Hart geschnitten folgt das Bild einer Frau, die sehr große Ähnlichkeit hat mit der Frau zu Beginn vom Flughafen. Darauf folgt wieder der Mann und es findet ein Zoom auf sein Gesicht statt (12:29). Die folgenden hart geschnittenen Bilder zeigen den Mann und die Frau an einem öffentlichen Platz mit anderen Menschen, jedoch nie gemeinsam, sie scheinen getrennt. Eine Überblendung führt zurück zum selben Mann mit Augenklappe in der Hängematte, es wird aber sehr schnell wieder zurückgeblendet, erneut auf das Gesicht der Frau. Wieder sind beide an diesem Ort, diesmal aber gemeinsam im Bild.
Das Bild, auf welches zurückgeblendet wurde, zeigt erst nur das Gesicht der Frau, dann wird das gleiche Bild in einem größeren Ausschnitt gezeigt und der Mann steht neben ihr, darauf folgt ein mittlerer Ausschnitt des Bildes, ebenfalls mit beiden. Dieses Bild wird also dreimal in verschiedenen Größen hart geschnitten gezeigt und es enthüllt erst ab dem zweiten Mal, dass sich beide im gleichen Bild befinden (13:26).
In der fortlaufend hart geschnittenen Sequenz sind die beiden immer gemeinsam im Bild oder im Schnitt-Gegenschnitt-Verfahren vereint. Prominent werden zwei Bilder, welche Gekritzel und Totenköpfe an einer Wand zeigen, bildfüllend. Vom öffentlichen Platz wechselt die Szenerie in einen Park. Was über sr Narrativität auszumachen ist, ist, dass es wohl eine Unterhaltung zu seiner Halskette gibt und beide auf einen Baumstamm mit Jahresringen zeigen. Die Sequenz endet damit, dass erneut ein Bild der Frau zweimal eingeblendet wird. Nun ist sie allein, erst ferner, dann sehr nah und mit einer abschließenden Überblendung erfolgt der Sprung zurück zum Mann mit der Augenklappe in der Hängematte.
In dieser Sequenz sind nun einige Veränderungen vollzogen worden. Wo vorhin die Bilder, welche scheinbar parallel zum Gesicht des Mannes mit der Augenklappe auftauchten, immer geblendet wurden, sind sie nun hart geschnitten, lediglich der Übergang zwischen diesen Bildern und dem Mann (in der Hängematte) wird geblendet. Außerdem taucht der Mann selbst in diesen Bildern auf und noch dazu nähert er sich einer Frau an, die nun ziemlich eindeutig als die Frau vom Flughafen zu Beginn des Filmes erkannt werden kann. Diese Bilder etablieren sich also mehr und mehr als parallele, zusammenhängende Welt (da ebenfalls hart geschnitten und narrativ), deren Dreh- und Angelpunkt die Frau zu sein scheint, die aber nun einer festen Perspektive, des Mannes nämlich, der selbst erscheint, unterworfen sind. Gerade der Zoom auf die Augen des Mannes weist hierauf hin. Dabei stellt der Zoom selbst, wie jede Bewegung, die in Relation zu den Fotos vollzogen wird, wieder den Bildcharakter des Fotos und somit die Art der Veränderung des Bildes (Narration) aus, denn das Foto bleibt unbewegt und die zu erwartende perspektivische Veränderung bleibt aus. Was da sichtbar gemacht wird, ist schließlich wieder der Umstand der Erzählung, welcher der Zuschauer in jenem Moment folgt. Jemand oder Etwas zeigt unverhohlen, dass die Aufmerksamkeit auf die Augen des Mannes auf dem Foto gelenkt werden soll. Dabei wird aber nicht nur die Aufmerksamkeit auf die Augen gelegt, sondern eben auch auf den Umstand des unverhohlenen Zeigens, also auf das Erzählen der Geschichte und darauf, dass es sich eben „nur“ um ein Foto handelt, welches hier klar manipuliert wird. Während die auftauchenden Bilder also als Parallelwelt etabliert werden, wird auch wieder das Geschichtenerzählen betont, das Spiel wird mit dem Ernst vermengt.
Auch die dreifache Wiederholung des ersten Bildes, welches die beiden gemeinsam zeigt, stellt die Eigenheiten des Fotos aus. Wenn mehrmals das gleiche Bild gezeigt wird, entsteht optisch der Eindruck eines Sprunges, was in der klassischen Montage meist vermieden wird.5 Die Unbewegtheit des Fotos äußert sich also durch die optische, überdeutliche Sichtbarkeit der Bewegung der Montage als Sprung. So ist es also die Bewegung der Montage als Sprung, die sukzessive enthüllt, was dieses Foto bereits von Anfang an an Information beinhaltet: Das Zusammensein von Mann und Frau. Die „Geschichte“ ist also im Bild immer schon geschrieben, aber die Präsentation der Montage dehnt den Augenblick und zerteilt das „Immer-Schon-Da“ in ein Vorher und Nachher, deutlicher noch als der Zoom, welcher eher ein Kontinuum erahnen lässt. Diese Konstruktion von Vergangenheit und Zukunft wird gerade durch das Springen im Bild ausgestellt, welches an sich zeitlos ist und somit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfallen lässt. Erneut weist der Film also auf den Akt des Geschichtenerzählens hin und lässt bereits erahnen, dass in der Bilderwelt von LA JETÉE Zeit nur als narratives Konstrukt in ein Vorher und Nachher zerlegt werden kann. Das Ende dieser Sequenz wiederholt den Sprung im gleichen Bild, wenngleich diesmal die Frau allein zu sehen ist, beide Male. Diesmal wird also nichts enthüllt und dennoch passiert etwas anderes, als würden zwei verschiedene Bilder der Frau aneinandergereiht. Wo vorher also betont wurde, wie Narration und die Illusion der Zeit als ein Vergehen gemacht werden, wird nun betont, dass das Bild selbst unvergänglich und unentrinnbar bleibt. Das Bild selbst ist wie das Schicksal, unveränderlich und feststehend. Diese beiden Positionen sind wie das Spiel und der Ernst, die in LA JETÉE das wahnsinnige Gedächtnis konstruieren.
Weitere Fragen werfen die zwei Bilder der Kritzeleien an den Wänden auf. Wie zuvor schon die Statuen im Gang des Höhlensystems, sind sie direkt und hart in den narrativen Fluss der Bilder eingewoben. Da an dieser Stelle bei der reinen Bildbetrachtung aber Informationen fehlen, muss ihre Bedeutung später erörtert werden. Momentan kann nur festgestellt werden, dass der Film Hinweise zu geben scheint, die sich nicht eindeutig erklären lassen, was ebenfalls wieder das Geschichtenerzählen ins Rampenlicht rückt.
Vom Mann in der Hängematte wird, wie schon zuvor, erneut zurückgeblendet auf die Frau, die diesmal in der Sonne sitzt. Allerdings wird vor der Rückblendung ein Zoom auf den Kopf des Mannes mit der Augenklappe gefahren (15:28). Dieser Zoom nun ist die erste Bewegung, welche im Experimentierraum6 stattfindet. Er betont wieder den Kopf/die nicht sichtbaren Augen des Mannes. Kopf oder Augen erscheinen also als essentielles Bindeglied dieser beiden parallelen Bilderwelten. Außerdem findet die Ausstellung der Bildhaftigkeit und somit der Erzählung nun nicht mehr nur in der Bilderwelt, sondern auch im Experimentierraum statt, was an dessen Wahrheitsgehalt als Basis und Ausgangspunkt des Erzählens Zweifel aufkommen lässt.
Drei aufeinander folgende Bilder der Frau mit geschlossenen Augen in der Sonne, vermutlich im selben Park, werden nun nicht wie zuvor hart geschnitten, sondern überblendet. Dann tritt der Mann erneut ins Bild und es folgen wieder harte Schnitte. Wie also zu Beginn, als diese „anderen“ Bilder zuerst auftauchten, werden sie geblendet und nicht hart geschnitten, immer wenn der Mann selbst nicht Teil dieser Bilder ist. Er fungiert also als eine Art perspektivisches Zentrum, welches die (sr) Narration, die nur bei harten Schnitten einsetzt, erst ermöglicht.
Nun beobachtet der Mann diese Frau einige Bilder lang, während ihre Augen geschlossen sind. Nach diversen Bildern der beiden führt ein harter Sprung zurück in den Experimentierraum. Das letzte Bild der beiden und das erste im Experimentierraum scheinen auf einen Blickaustausch zwischen dem Mann und einem Mann aus dem Experimentierraum hinzudeuten, der ihm gerade die Augemaske abnimmt (17:09). Einige hart geschnittene Bilder später (im Experimentierraum) wird auf Schwarz ausgeblendet.
Von Schwarz kommend folgen dann weitere Bilder, allerdings immer noch im Experimentierraum, wieder hart geschnitten und der Mann trägt erneut die Klappe auf den Augen.
Anschließend wird erneut auf die Frau überblendet, dann wieder zurück auf ihn, noch einmal auf die Frau, wieder zurück auf ihn und nun plötzlich wird zum ersten Mal der Mann mit Maske durch einen harten Schnitt mit der Frau verbunden, und zwar mit einem Bild von ihr, welches dem ersten langen Bild dieser Frau am Flughafen sehr gleicht (17:51). Es folgen weiter harte Schnitte zu ihm und wieder zur Frau, und nun wird von der Frau aus auf ihn mit Maske geblendet (17:59).
Urplötzlich gerät also die bisherige Verwendung von Blenden und harten Schnitten ins Wanken. Zum einen wird mehrmals zwischen Experimentierraum und paralleler Bilderwelt hin- und hergeblendet, was schon verwirrend wirkt. Dann aber findet dieser Wechsel zum ersten Mal hart geschnitten statt, und zwar zweimal. Schließlich wird, um die Verkehrung zu vervollkommnen, von der Frau zurück auf ihn geblendet, als wäre sie es, die ihn imaginiert, ja als würde er nun verkostet. Was diesen Teil der Analyse betrifft, kann nur das Ins-Wanken-Kommen der bisherigen Struktur konstatiert werden, mehr Aufklärung wird die Zusammenführung der Analysen von Erzählerstimme und Bildern bringen.
Erneuten harten Schnitten im Experimentierraum, in welchen dem Mann die Maske abermals abgenommen wird und er einzuschlafen scheint, folgt eine Blende auf Schwarz.
Aus dem Schwarz kommend erscheint wieder die Frau, scheinbar ebenfalls schlafend, in einem Bett. Es folgen viele Bilder in teilweise sehr rascher Folge, die alle zügig ineinander überblendet werden (18:18).
Jetzt nun – endlich – geschieht etwas Außergewöhnliches (18:24): Es folgen sehr viele ineinander überblendete Einzelbilder in kürzester Zeit. Sie zeigen eine Bewegung des Kopfes der Frau von rechts nach links. Diese Bilder sind höchstwahrscheinlich keine Fotos im herkömmlichen Sinne, denn sie liegen zu eng beieinander. Entweder sie wurden mit einem Highspeed – Fotoapparat geschossen, also mit sehr hoher Bildrate, oder aber es handelt sich um Filmbilder, von denen Einzelne ausgewählt und wie Fotos behandelt wurden. Diese Bilder, welche die Bewegung in extrem kleinen Schritten beschreiben, erscheinen durch den Überblendungseffekt, der zwischen ihnen liegt, fast schon die Illusion von bewegtem Film zu reproduzieren. Dieser Moment befindet sich also schon hart an der Schwelle zu Film. Dann schließlich (18:53) wird diese Schwelle überschritten. Es handelt sich nicht mehr um abgefilmte Fotos, sondern um ein sich bewegendes Motiv vor einer laufenden Kamera. Die Bewegungsillusion ist perfekt, der Film läuft, die Frau blinzelt erwachend in die Kamera.
Festzuhalten bleibt Folgendes: Der Übergang zur parallelen Bilderwelt erfolgt diesmal über eine Schwarzblende, wie schon bei den ersten Bildern dieser Art. Sie sind also mehr als sonst vom Experimentierraum getrennt und tauchen nicht als bewusst evoziert auf. Dies wird bestärkt durch den schlafenden Zustand des Mannes, der außerdem zum ersten Mal bei solch einem Übergang keine Augenmaske trägt. Die Frau schläft zu Beginn ebenfalls und ihre Präsentation wechselt zum Erwachen hin, vom Überblenden von Fotos zu bewegtem Film.
Eingangs wurde erwähnt, dass die Machart von LA JETÉE in Form von aneinander gereihten Einzelbildern über die Montage eine Narration erzeugt, die SR ist, weil das Entstehen der Narration selbst durch die Fotos ausgestellt wird. Diesen sr Charakter verliert nun der Film in dem Moment, in dem die Bilder zu laufen beginnen. Der einzige Moment also, wo LA JETÉE als Film läuft, ist jener, der auf sr verzichtet und die Machart der Narration vergessen lässt. Was übrig bleibt ist die Narration selbst, paradoxerweise dargestellt als ein Erwachen, welches aber in einem Traum eingebettet scheint, denn der Mann schlief ja ein. Das Geschichtenerzählen kommt zum Erliegen, es bleibt nur die Geschichte. Die Geschichte aber ist ein Traum, sie ist ein Trugschluss, wie das Erwachen ein Trugschluss ist. Wenn der Film läuft und die Gegenwärtigkeit der bewegten Bilder wie ein Wachsein erscheinen, dann befinden wir uns vollkommen in der Narration der Fiktion, im intellektuellen Tiefschlaf gewissermaßen, und die scheinbare Gegenwärtigkeit ist nichts anderes als das überschnelle Vorbeieilen des Schicksals in Form von Bildern, die nur deswegen veränderlich und deswegen gegenwärtig erscheinen, weil die Illusion entsteht, die Bewegung der Montage, die Bewegung zwischen den Bildern, sei die Bewegung im Bild/Foto selbst. Das Bild ist und bleibt aber unveränderlich und zeitlos, die Veränderung findet nur zwischen den Bildern statt und das scheinbare Wachsein in der Narration ist der Traumzustand der Sphäre, in der die Geschichte erzählt wird, in diesem Fall eben der Kopf des Mannes in der Hängematte. Dabei muss der Kopf des Mannes nicht die richtige oder wirkliche Zeit/Welt beschreiben. Aber er fungiert als Abstoßungspunkt, um Narration als solche auszustellen bzw. tut dies in genau jenem Moment nicht, denn er schläft und wird ins Schwarz ausgeblendet.
Mit einem harten Schnitt auf das bekannte Gesicht eines der Männer im Experimentierraum wird diese Sequenz beendet. Der Mann in der Hängematte hat die Augen weit geöffnet. Es folgen zwei Bilder des Mannes auf der Hängematte, immer noch ohne Augenklappe. In dem einen Bild sind seine Augen geöffnet, im nächsten kneift er sie zusammen, dann folgt eine Blende auf Schwarz.
Aufgeblendet wird in einem Museum, wo sich der Mann nun mit der Frau befindet.
Wieder wird also die parallele Bilderwelt durch bloßes Schließen der Augen und eine Schwarzblende „erreicht“. Diesmal allerdings schläft der Mann nicht und dementsprechend sind die Bilder im Museum auch nicht laufender Film und genauso wenig ineinander übergeblendet. Sie sind hart geschnitten und er selbst ist ja nun auch wieder mit anwesend. Der Sprung ins Museum ist also ein wacher und wie es scheint sehr bewusster, denn der Mann kneift seine Augen sehr stark zusammen. Neben den anfänglichen Übergängen mit Augenklappe ist dies die zweite Variante, um in die parallele Bilderwelt zu gelangen.7 Sie wird vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie die mit Abstand längste zusammenhängende Sequenz in der parallelen Bilderwelt des ganzen Filmes ist (19:00 bis 22:40). Zurück in den Experimentierraum geht es, wie schon beim vorigen Mal, ohne Augenklappe, mit einem harten Schnitt.
Einer hart geschnittenen Sequenz im Experimentierraum folgt eine Blende auf den Mann, wie er in der Hängematte liegt, erneut mit Augenklappe (23:07).
Über Blende und Zoom erscheint im Anschluss ein Bild, welches wie eine Zeichnung von Linien und geometrischer Figuren aussieht. Dieses Bild überblendet und zoomt in zwei weitere Bilder dieser Art und wird schließlich auf den Mann überblendet, der mit einer schwarzen Sonnenbrille vor schwarzem Hintergrund erscheint (23:35). Es tauchen im schwarzen Hintergrund weitere Gesichter auf, jetzt hart geschnitten. Da diese anderen Gesichter fast nur auf der linken Seite vom Licht getroffen werden, der Mann aber von rechts, scheinen sie sich gegenüberzustehen, in einem Raum, der nicht auszumachen ist. Nachdem ein Gegenstand übergeben wurde, erfolgt erneut die Überblendung zurück zum Experimentierraum, wo dem Mann erneut die Augenklappe abgenommen wird (24:34).
Die parallele Bilderwelt hat nun also ihr Aussehen gravierend verändert, denn es ist kein Raum mehr zu erkennen. Weiter wurde über Zeichnungen, Zooms und Überblendungen eine Art Bewegung ähnlich einem Flug beschrieben. Der Zoom erfüllt hierbei nicht die gleiche Funktion wie bei den Fotos, zumal die zweidimensional gezeichneten, abstrakten Bilder sich bereits von selbst als Bilder ausstellen. Abgesehen von diesem bewegten „Intro“ verläuft die Sequenz in gewohnten harten Schnitten und es handelt sich vermutlich um eine Konversation zwischen dem Mann und einigen anderen Menschen. Eine Parallele ließe sich hier ziehen zwischen der Narration und der Struktur der gezeichneten Bilder. Zwar sind die Linien und Kreise dieser Bilder ein Mittel, Raum penibel zu zergliedern, jedoch ist der Raum, der aus diesen Bildern hervorzugehen scheint, ein komplett schwarzer, also eigentlich als Raum nicht mehr vorhanden. Auch die Narration strukturiert die Einzelbilder des Films oftmals in genauer Reihenfolge und rhythmisch, jedoch ist dem Bild selbst keinerlei narrative Struktur zu entnehmen.
Hart geschnitten erscheint der Mann in seiner Hängematte erneut im Experimentierraum, zudem weitere, bisher unbekannte Personen. Auffallend ist, dass der Rücksprung nun schon wieder hart erfolgt, obwohl der Übergang eingeblendet wurde und der Mann seine Maske trug. Die bisherigen Regeln scheinen also nicht mehr zu stimmen.
Einem längeren Bild auf das Gesicht des Mannes in der Hängematte, er hat die Augen geöffnet, folgen in harten Schnitten erneut die Gesichter aus dem schwarzen Raum, diesmal in Form von Fotomontagen, vermischt mit gezeichnetem Hintergrund. Das Bild springt aber von den Gesichtern zurück zum Mann in der Hängematte, dann erneut zu den Gesichtern, wieder zum Mann aus der Hängematte, jetzt aber stehend und wieder mit der schwarzen Sonnenbrille von vorhin.
Das Bemerkenswerte dieses Übergangs ist, dass der Mann die Augen immer offen hielt, keine Augenkappe trug und außerdem nicht geblendet wurde. Für den Moment, in dem das Bild ständig zwischen den Parteien hin und her springt, erscheint der Eindruck, die Bilder seien diesmal zu ihm gekommen, also wieder, als würde nun er verkostet. Aus dem Experimentierraum nun verschwindet der Mann oder sein Abbild (nicht sein Körper) mit Sonnenbrille für immer.
Vom Mann mit Sonnenbrille wird nun überblendet auf ein Bild vom Flughafen. Es folgen in harten Schnitten Bilder, in denen der Mann selbst am Flughafen ist, immer noch mit Sonnenbrille. Zum ersten Mal wird also das Augenkleid (sei es Augenklappe, Sonnenbrille oder eben keine Augenbedeckung) von einer Welt/Umgebung in die andere transportiert, in diesem Falle nämlich von der Welt des schwarzen Raumes in die Welt des Flughafens. Dabei ist der Flughafen kein eindeutig definierter Raum. Die bloße Betrachtung der Bilder erlaubt es nicht zu entscheiden, ob es sich hierbei um eine parallele Bilderwelt handelt, die sich vom Experimentierraum abgrenzt, oder nicht. Es ist lediglich bekannt, dass dieser Raum bereits vor dem Experimentierraum zu sehen war.
Es wird die Besuchertrasse am Flughafen gezeigt, wie ganz zu Beginn des Films auch. Auch die Frau am Ende der Trasse ist wieder da. Der Mann rennt, die Schnitte werden schneller und schneller, ein Mann aus dem Experimentierraum ist plötzlich auch auf der Trasse zu sehen, und der rennende Mann fällt, Bild für Bild, zu Boden. Der Gebrauch der Schnittgeschwindigkeit ist hierbei sehr interessant. Während der Mann rannte, war sie teilweise so hoch, dass die Bilder weniger als eine Sekunde standen, kurz bevor er aber fällt, als nämlich der andere Mann vom Experimentierraum gezeigt wird, verlangsamt sich alles wieder, als würde es in Zeitlupe ablaufen. Die Frau am Ende der Trasse, die schon sehr nahe gerückt war, erscheint so wieder viel ferner. Die Bildfrequenz wird sehr verlangsamt und das Zu-Boden-Fallen dauert mehrere Bilder. Vom am Boden liegenden Mann wird der Film auf Schwarz ausgeblendet.
Gerade dieser exaltierte Gebrauch der Schnittfrequenz gibt Anlass, noch einmal abschließend über die Eigenart der Einzelbilder nachzudenken. In dem Moment, wo die Bilder derart rasch aufeinanderfolgen, entsteht fast der Eindruck, es könne dem Mann gelingen, dem Einzelbild, respektive dem Schicksal, zu entrinnen. Fast beginnt der Film abermals zu laufen, fast gerät das Geschichtenerzählen abermals in Vergessenheit, fast erlangt die Fiktion der Narration die Oberhand und fast erreicht der Mann die Frau. Doch dann verkehrt sich alles ins Gegenteil, sein Fall zu Boden wird zeitlupenartig gebremst, die Einzelbilder manifestieren ihre Unentrinnbarkeit. Die Bewegung zwischen den Bilden erlaubt, wenn sie rasch genug erfolgt, eben nur die Illusion eines bewegten Bildes, die Illusion einer Veränderung. Das Bild bleibt aber unbewegt, die Narration bleibt Fiktion und LA JETÉE bleibt die Geschichte des Geschichtenerzählens als einem, das sich selbst nur im Traum entrinnen kann. Aber auch der Traum braucht einen Träumer und dieser wird entweder nie erwachen, was den Traum des gleichen unentrinnbaren Schicksals überführen wird wie die Wirklichkeit, oder er erwacht und fällt dem Schicksal seiner Wirklichkeit erneut in die Hände. Die einzige Ausflucht ist das Geschichtenerzählen selbst, als eine Art partieller Traum, als wahnsinniges Gedächtnis, als partielle Ausflucht, die nur deswegen funktioniert, weil sie sich des Sprungs zwischen den immer ununterscheidbarer werdenden Welten (vgl. die Übergänge) ständig bewusst ist, als eine Ausflucht, die nichts verändern kann, aber dennoch nicht hilflos der Welt ausgeliefert ist. Das scheint Chris Markers Äquivalent zu Kants kopernikanischer Wende zu sein, das ist LA JETÉE – der Wurf und die Geworfene.8
- Selbstreferentiell wird von nun an mit SR, selbstreferentiell mit sr abgekürzt. ↩
- Mir. ↩
- Ein durchschnittlicher bewegter Film ohne Ton betrachtet, lässt zwar einfache Bewegungszusammenhänge schneller als bei LA JETÉE klar werden, aber LA JETÉE ist durch die fotografische Machart eher dafür konzipiert, selbsterklärend zu wirken, vergleichbar mit der übersteigerten Mimik und Gestik in Stummfilmen. Dies hängt damit zusammen, dass die Fotos sehr gezielt ausgewählt wurden und für entscheidende Momente stehen, vergleichbar mit den Bildern eines Comics. ↩
- Zeitangaben beziehen sich auf die im Literaturverzeichnis angegebene DVD und sind gehalten in der Form (Minuten:Sekunden). Toleranz +/- 3 Sekunden. ↩
- Deshalb ist auch in der klassischen Montage der Schnitt von zwei aufeinander folgenden Einstellungen mit der gleichen Einstellungsgröße oftmals problematisch, zumal die Personen im Bild leicht den Eindruck erwecken, sie sprängen im Raum, was die Illusion des Kontinuums und des „unsichtbaren“ Schnittes zerstört. Hier in LA JETÉE variiert zwar die Einstellungsgröße, aber das Bild eben nicht. ↩
- Die reine Bildbetrachtung rechtfertigt nicht, diesen Ort „Experimentierraum“ zu nennen. Um jedoch Worte zu sparen und die Analyse wenigstens ein klein wenig übersichtlicher zu machen, entschloss ich mich, diesen Begriff von nun an zu verwenden. ↩
- Der „Übergang“ aus dem Schlafzustand wird nicht als Übergang bewertet, denn die laufenden Bilder passen nicht zu den mentalen Bildern und wegen des Schlafens scheint es nicht der Mann zu sein, der über geht. ↩
- Sie fragen sich, warum DIE? Ich weiß es nicht, aber eins von Markers Lieblingstieren, die Katze, ist weiblich. ↩