Wachsein im Traum – Theoretische Überlegungen, Analyse und Interpretation von Chris Markers LA JETÉE

Anhang – Deleuze und LA JETÉE

In seinem Buch über Bergson1 verdeutlicht Deleuze seine Auffassung der Zeit als absolute, indem er Bergsons Interpretation und Kritik an der Relativitätstheorie von Einstein nachzeichnet. Diese Auffassung widerspricht der Aussage dieser Arbeit komplett. In dieser Arbeit versuche ich, die spezielle Wirkung von LA JETÉE dadurch nachzuzeichnen, dass es eben keine absolute Zeit oder Dauer gibt, die Virtuelles und Aktuelles beinhaltet, denn nur so kann Verkosten und Verkostet-Werden funktionieren und nur so kann ein Wachsein im Traum entstehen und so wird auch die Realität selbst zur Fiktion. Diese Arbeit blickt nicht hinter die Biegung der Erfahrung. Stattdessen ist alles erfahrbare Fiktion, weswegen es auch möglich ist, der Andere zu sein oder den Anderen zum Eigenen zu machen.

Wie viele Zeiten es gibt, verdeutlicht Deleuze mit Bergson folgendermaßen:

 

»Sitzen wir am Ufer eines Flusses, sind für uns, ohne daß wir festgelegt wären, das Fließen des Wassers, das Vorbeiziehen eines Schiffes oder der Flug des Vogels und das niemals abbrechende Gemurmel unseres inneren See­lenlebens, je nachdem, drei verschiedene Dinge oder aber eine einzige Sache (…).« (DS 67) Bergson lenkt hier das Augenmerk auf das Vermögen, »sich zu teilen, ohne sich zu spalten«, »eins zu sein und mehrere«; es ist genau genommen die Eigenschaft der Dauer, mit sich verschmelzen zu können. Das Fließen des Wassers, der Flug eines Vogels und das Murmeln meiner inneren Stimme bilden drei Strö­me; aber sie können dies nur, weil meine Dauer einer die­ser Ströme ist, und noch dazu das Element, das die beiden anderen in sich enthält. Weswegen könnte man sich nicht mit zwei Strömen zufriedengeben, meiner Dauer und dem Flug des Vogels beispielsweise? Das ist so, weil von zwei Strömen niemals gesagt werden kann, daß sie koexistier­ten oder gleichzeitig seien, wenn sie nicht in einem gleich­artigen dritten enthalten wären. (104)

 

Hier weicht die Interpretation also von Einstein ab, der die Gleichzeitigkeit aufhebt, und es wird eine Zeit gesucht, die die anderen enthält. Weiter heißt es:

Der Vogelflug und meine eigene Dauer sind nur in dem Maße gleichzeitig, als sich meine eigene Dauer verdoppelt und sich in einer anderen reflektiert, sie zur gleichen Zeit enthält, wie sie den Vogel­flug enthält: Mithin haben die Ströme eine triadische Grundstruktur. 11 In diesem Sinn hat meine Dauer wesent­lich das Vermögen, andere Zeitfolgen zu entdecken, sich mit ihnen zu verschmelzen und sie sich schrankenlos ein­zuverleiben. Es ist aber festzustellen, daß diese unendliche Fähigkeit zur Reflexion und zur Aufmerksamkeit die tat­sächlichen Eigenschaften der Dauer ausmachen, auf die immer wieder hingewiesen werden muß: Sie ist nicht das schlicht Unteilbare, sondern zeichnet sich durch einen ganz eigenen Stil aus, mit dem sie Teilungen vollzieht; sie ist nicht bloße Sukzession, sondern eine eigene Art der Koexistenz und Gleichzeitigkeit von Strömen. »Dies ist un­sere ursprüngliche Vorstellung von Gleichzeitigkeit. Wir nennen zwei äußere Ströme gleichzeitig, die dieselbe Dau­er belegen, weil sie einander in der Dauer, in einer dritten Dauer, in der unserigen, umfassen. [… Diese] strömende Gleichzeitigkeit läßt uns die innere, die wirkliche Dauer wiedergewinnen.« (DS 68,81) (104f)

 

Nun wird also die anfangs von Bergson als Sukzession eingeführte Dauer zur Koexistenz und Gleichzeitigkeit. Meine Arbeit fasst die Dauer weiterhin als Sukzession, denn sie geht nicht von dieser dritten Zeit aus. Aber weiter.

Im System der zwei Beobachter Peter und Paul hätten nach Einstein beide eine verschiedene Zeit. Nun stelle sich für Deleuze/Bergson die Frage, was diese andere Zeit sein soll, zumal ja die Beobachter austauschbar sind, da sie sich „nur“ relativ zueinander verhalten. Deleuze meint, die andere Zeit sei also weder die von Paul noch die von Peter, die ja beide, nur numerisch verschieden, letztendlich zusammenfallen. Somit beweise die Relativitätstheorie eigentlich das Gegenteil von dem, was sie behaupte: Wenn es verschiedene Zeiten gibt, dann kann das Verweben von Raum und Zeit, wie Einstein es tut und damit die Zeit numerisch fasst, diese verschiedenen Zeiten nicht erklären. Stattdessen weist sie auf eine andere, eine einzige Zeit hin, die weder die von Peter noch die von Paul (beides eigentlich eine Zeit), noch die von Peter für Paul vorgestellte Zeit ist. Diese andere Zeit zeige sich schon, wenn wir uns – ausgehend von der Relativitätstheorie – vorzustellen versuchen, was das Verschiedene der Zeiten eigentlich sein solle. Dabei kann sich Peter Pauls Zeit nicht widerspruchsfrei vorstellen. Die Vorstellung von Pauls Zeit in Peter ist keine gelebte Zeit, sondern nur ein Symbol, denn um sie sich vorzustellen muss Peter aufhören, er selbst zu sein. Es ist das Symbol, dass Paul zu Peter werde, was aber Peters Dauer/Bewusstsein negiere, denn Peter nehme hierzu sein Bezugssystem und ummantle es mit der äußerlichen Hülle von Paul. Hier widersprechen sich Deleuze/Bergson allerdings.

Einmal erweckt er den Anschein, Peter, der sich Pauls Zeit vorstellt, behalte sein Bezugssystem, dann sagt er, auch Peter verliere sein Bezugssystem. Das Bezugssystem ist vollkommen fragwürdig. Auch widerspricht er sich dahingehend, dass er einmal sagt, Peter, der sich Pauls Zeit vorstelle, würde zu einem Paul-Bewusstsein im Peter, dann aber genau umgekehrt, dass ein Peter-Bewusstsein in einer Paul-Hülle sei. Bezugssystem als Hülle oder körperliche oder raumzeitliche Verortung zu umschreiben macht auch keinen Sinn, denn Peter kann nicht gleichzeitig sein Bezugssystem hernehmen bzw. Peters vorgestellter Paul kann nicht Peters Bezugssystem hernehmen und sein (welches denn?) eigenes dennoch verlieren. Damit Sie mir überhaupt glauben, welch ein Kuddelmuddel dies ist, zitiere ich die Stelle:

Halten wir uns an die Merkmale, durch die Bergson Dauer als virtuelle oder stetige Vielheit definierte: Einer­seits scheidet sie sich in Elemente, die wesensverschieden sind, andererseits existieren diese Elemente oder Teile ak­tuell nur insofern, als die Scheidung tatsächlich vollzogen wird (wenn unser Bewußtsein »irgendwo mit der Teilung aufhört, so hört da auch die Teilbarkeit auf«. (MG 205/ 341) Wenn wir uns in einen Augenblick versetzen, in dem die Unterscheidung nicht vollzogen wird, d. h. wenn wir uns in das Virtuelle versetzen, dann gibt es offensichtlich nur eine Zeit. Anschließend versetzen wir uns in einen Augenblick, in dem die Unterteilung vollzogen wird: zwei Ströme, zum Beispiel den Lauf von Achilles und den Lauf der Schildkröte. Wir sagen, sie seien wesentlich verschie­den (jeder Schritt des Achilles und jeder Schritt der Schild­kröte, wenn wir die Unterscheidung noch weiter treiben). Daß die Unterteilung der Bedingung genügen soll, aktuell vollzogen zu werden, bedeutet, daß die Teile (die Zeitströme) gelebt werden müssen oder daß zumindest diese Möglichkeit versucht und gedacht werden muß. Die Generalthesis, die Bergson hier beweisen will, besteht darin, daß sie nur in der Perspektive der einen Zeit erlebt und gelebt werden können. Der Beweisgang ist folgender: Wenn wir die Existenz mehrerer Zeiten annehmen, dann betrachten wir nicht allein den Zeitstrom A und den Zeitstrom B, noch nicht einmal nur das Bild, das sich das Subjekt A von B macht (Achilles, der sich einen Begriff oder eine Vorstel­lung vom Lauf der Schildkröte aus ihrer Perspektive macht). Um die Existenz zweier Zeiten denken zu können, kommen wir nicht umhin, eine merkwürdige Komponente einzuführen: A macht sich im Bewußtsein von B ein Bild, obwohl A weiß, daß B dieses Bild in der Weise gar nicht leben kann. Diese Komponente hat durchweg einen >sym­bolischen< Charakter, d. h. sie stemmt sich gegen das Ge­lebte und schließt es aus; einzig deswegen vermag sich die angenommene zweite Zeit zu realisieren. Bergson zieht hieraus den Schluß, daß in der Sphäre der aktuellen Teile die eine, einzige Zeit nicht weniger existiert als in der Sphäre des virtuellen Ganzen. (Was nun aber dieser dunk­le Beweisgang besagen soll, werden wir sogleich sehen). (105f)

 

Dieses, was da sogleich sichtbar gemacht werden soll, ist bitter nötig, denn in den obigen Zeilen sollte ja bewiesen werden, dass „ sie [die zwei Zeitströme] nur in der Perspektive der einen Zeit erlebt und gelebt werden können.“ Was bisher gezeigt wurde ist, dass ein Bild, welches sich A von B macht, nicht gelebt wird, was auch nicht schwierig ist zu verstehen. Dieses Bild oder diese angenommene Zeit sei symbolisch, auch dies leuchtet ein. Und „… einzig deswegen vermag sich die angenommene zweite Zeit zu realisieren.“, bedeutet dann wohl, dass  angenommen wird, es seien zwei Zeitströme, obwohl einer davon nur Symbol ist. Hieraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, der bewiesen werden sollte: Nämlich dass die zwei Zeitströme nur in der Perspektive der einen Zeit erlebt und gelebt werden können. Stattdessen müsste man den Schluss ziehen, dass A sich nur eine Vorstellung machen kann von der Zeit von B, diese Vorstellung bleibt aber symbolisch und die Zeit von B bleibt A fremd. Dies würde allerdings bedeuten, dass die Relativitätstheorie tatsächliche Verschiedenheiten nicht unterbinden würde, was ihr aber Bergson/Deleuze hartnäckig unterstellen.2 Aber der Beweisgang ist ja noch nicht zu Ende:

 

Wenn wir nun die Unterteilung in die andere Richtung zurückverfolgen, haben wir mit ihren jeweiligen Wesens­unterschieden und in unterschiedlichen Kontraktions- und Abspannungsstufen Ströme, die in der einen einzigen Zeit gleichsam als ihrer Existenzbedingung miteinander ver­bunden sind. »Ein und dieselbe Dauer versammelt in ihrem Verlauf die Geschehnisse der gesamten materiellen Welt; und nun können wir auch die Bewußtseine wegden­ken, die wir zuvor hin und wieder eingesetzt hatten, gewis­sermaßen als Schaltstelle der Gedankenentwicklung: Ein­zig die apersonale Zeit gibt es noch, in der sich alles abspielt.« (DS 59) Deswegen haben die Zeitströme eine triadische Struktur, unsere Dauer (die Dauer eines Zu­schauenden) ist sowohl als Zeitstrom erforderlich wie auch als Statthalter der Zeit, in dem alle Ströme zusammenflie­ßen. – Insofern kann man sagen, daß die verschiedenen Texte Bergsons vollkommen harmonieren und sich in kei­ner Hinsicht widersprechen: Obwohl es unendlich viele aktuelle (= verallgemeinerter Pluralismus) Zeitströme gibt, die notwendigerweise zu ein- und demselben virtuellen Ganzen (= eingeschränkter Pluralismus) gehören, gibt es die eine, selbe Zeit (= Monismus). Bergson verzichtet kei­neswegs auf die Vorstellung einer Wesensverschiedenheit der aktuellen Zeitströme, ebensowenig auf diejenige von Abspannungs- und Kontraktionsstufen innerhalb der Vir­tualität, die sie umfaßt und die sich in ihnen aktualisiert. Aber wenn beides gewiß ist, so meint er, so ist damit die eine und einzige Zeit nicht ausgeschlossen, sondern im Gegenteil impliziert. Kurz, die virtuellen Vielheiten schlie­ßen nicht nur eine einzige Zeit ein; vielmehr ist Dauer als virtuelle Vielheit die einzige und selbe Zeit. Dennoch bleibt Bergsons Beweisgang, inwiefern die Pluralität von Zeiten eine widersprüchliche Vorstellung sei, nach wie vor recht unklar. Fassen wir ihn von der Re­lativitätstheorie her etwas genauer. Denn paradoxerweise wird er nur über den Umweg dieser Theorie klar und über­zeugend. Solange qualitativ verschiedene Zeitflüsse im Spiel sind, kann die Entscheidung in der Tat kaum getrof­fen werden, ob die zwei Subjekte dieselbe Zeit leben und wahrnehmen: Man geht diese Wette zwar ein, doch einzig deshalb, weil es >plausibler< ist. Bei der Relativitätstheorie hingegen ist nicht mehr von qualitativen Zeitströmen die Rede, sondern von Systemen »im Zustand reziproker und gleichförmiger Verschiebung«, innerhalb derer die Beob­achter austauschbar sind, da es kein bevorrechtetes System gibt. 12 Lassen wir diese Hypothese stehen. Einstein sagt, die Zeit zweier Systeme, S und S‘, sei nicht die gleiche. Was aber ist diese andere Zeit? Es ist weder Peters Zeit in S, noch Pauls in S‘; denn beide Zeiten unterscheiden sich der Hypothese zufolge nur quantitativ voneinander, und diese Differenz verschwindet, wenn schrittweise, zuerst S und dann S‘ als Bezugssysteme genommen werden. (106ff)

 

Dieses schrittweise entstammt wohl der obigen Überlegung zu Achill. Wenn Achill und die Schildkröte tatsächlich zwei wesensverschiedene Zeitströme beschreiben, so oben, dann ist auch jeder einzelne Schritt verschieden. Bei Einstein nun würden diese Schritte gleich werden. So soll vermutlich angedeutet werden, dass es die Einsteinsche Zeitbetrachtung ist, die zu Zenons Paradox führt, dass Achill die Schildkröte nie einholen kann. Aber Deleuze spart sich, dies näher auszuführen. Die Relativitätstheorie ist nämlich keineswegs der Verursacher dieses Paradoxons. Achill und die Schildkröte sind zwei verschiedene Beobachter, die zwar laut Einstein, was die Gleichzeitigkeit betrifft, verschiedener Meinung sind, was aber ihre relative Bewegung zueinander anbelangt, so kommt die Relativitätstheorie keinesfalls zu dem Entschluss, Achill würde die Schildkröte nie einholen, ganz im Gegenteil: Gerade weil sie relativ zueinander bewegt sind, beschreiben sie verschiedene Zeitströme und sind verschiedene Beobachter, und zwar relativ zueinander. Es ist weiter falsch zu behaupten, die Differenz der Zeitströme zwischen dem einen und dem anderen Beobachter verschwinde, wenn man die Bezugssysteme aneinander angleiche bzw. „Bezugssystem“ muss richtig definiert werden. Der Beobachter ist kein ausdehnungsloser Punkt im Kosmos. Er ist zum einen als ein Etwas ausgedehnt und interagiert (krümmt) folglich mit der Raumzeit. Das heißt, die Bezugssysteme anzugleichen hieße, auch die Körper anzugleichen. Dabei müssten die Körper verschmelzen, aber dergestalt, dass nachher nur noch A oder nur noch B vorhanden wäre und nicht etwa ein doppelt so schweres A oder B. Der Beobachter macht ja das Bezugssystem und ein von ihm unabhängiges Bezugssystem, das irgendwie irgendetwas angeglichen werden könnte, gibt es nicht.  Zum anderen ist die Bewegung der beiden Beobachter relativ zueinander der wichtigste Faktor, um den es geht. Zwei relativ in Ruhe zueinander befindliche Beobachter nehmen auch, was die Gleichzeitigkeit betrifft, keinerlei Differenz wahr. Sind sie relativ zueinander bewegt, kann die Differenz der Zeitströme nur überwunden werden, wenn sie sich in ihrer Bewegung aneinander angleichen. Achill und die Schildkröte sind aber zueinander nicht in Ruhe, deswegen kann auch die Differenz zwischen den beiden nicht verschwinden, sprich ihre Zeitströme bleiben different. Sie verschwände nur, wenn sie sich gleich schnell bewegten, aber genau dann holt Achill die Schildkröte freilich nicht ein. Nun aber zu behaupten, nur weil die Beobachter in der Relativitätstheorie austauschbar seien, würde so das Paradoxon Zenons gestärkt, ist nicht zulässig und Deleuze tut dies ja auch nicht. Dennoch klingt es so, als würde dies angedeutet. Vermutlich ging es Deleuze/Bergson abermals darum, die gesonderte Stellung des Lebewesens in der Natur zu behaupten und der Idee entgegenzuwirken, dass ein Dauerndes durch ein anderes schlichtweg ausgetauscht oder reproduziert werden könnte.

In einem Brief an Metz schreibt Einstein 1924:

„It is regrettable that M. Bergson is so clumsy mistaken and that his error is of a purely physical nature, independent of any discussion between philosophical schools. Bergson forgets that the simultaneity (as indeed the non-simultaneity) of two events which affects one and the same being is something which is absolute, independent of any chosen system.“3

Und genau dies ist das Problem bei Bergson. Er nimmt an, es gäbe Bezugssysteme ohne Beobachter. Dies bedeutet, Gleichzeitigkeit sei immer in Frage gestellt, als sei die Gleichzeitigkeit auch für nur einen Beobachter ausgehebelt und sucht deswegen nach einer einzigen und alles entscheidenden Zeit, die klipp und klar festlegt, was wann passiert. Und da der zweite Beobachter hierfür laut Einstein kein verlässlicher Zeuge ist, wird die dritte Zeit engagiert, als absolute nämlich.

Nun aber weiter im Text, der noch immer beweisen muss, dass die zwei Zeitströme nur in der Perspektive der einen Zeit erlebt und gelebt werden können. Nehmen wir also hin, dass die Zeitströme der Relativitätstheorie nicht qualitativ verschieden seien:

 

Kann man wenigstens sagen, die andere Zeit sei jene, die Peter für die von Peter [hier muss eindeutig Paul stehen, vermutlich handelt es sich um einen Druckfehler, aber da die Passage sehr kryptisch ist, blieb er vermutlich unentdeckt] gelebte oder möglicherweise zu erlebende Zeit hält? Ebensowenig – und hier liegt der Punkt, um den es in der Bergsonschen Argumentation geht. »Ohne Zweifel ver­sieht Peter diese Zeit mit dem Etikett von Pauls Namen; doch hatte er einen sich nach seiner eigenen Dauer leben­den und sich richtenden Paul vor Augen und unterstellte deshalb, Paul nähme sein eigenes System als Bezugssystem und versetze sich mithin in diese einzige innerhalb eines Systems gegebene Zeit, von der wir eben sprachen: Da­durch würde Peter im übrigen auch sein Bezugssystem vor­läufig aufgeben, folglich seine Physikerexistenz und sein Bewußtsein; Peter sähe sich selber nur noch mit den Augen von Paul.«13 Kurz, die andere Zeit ist nichts, was Peter oder Paul oder was Paul, wie Peter ihn sich vorstellt, leben könnte. Es ist ein bloßes Symbol, das die Lebenssphäre ausklammert und lediglich markiert, daß dieses und kein anderes System zum Bezugspunkt genommen wird. »Peter sieht in Paul keinen Physiker mehr, nicht einmal ein be­wußtes Wesen oder sonst ein Seiendes: Er entfernt aus sei­nem lebendigen Bewußtsein das sichtbare Bild Pauls und nimmt von der Person nichts als ihre äußere Hülle«.

In der Hypothese der Relativitätstheorie wird mithin deutlich, daß es nur eine einzige gelebte und lebbare Zeit geben kann. (Folgt man diesem Beweisgang, so steht man jenseits der Relativitätshypothese, da qualitative Unter­schiede nicht ihrerseits numerische konstituieren können.) Deshalb ist Bergson der Meinung, daß die Relativitätstheo­rie – was die Vielzeitigkeit angeht – das Gegenteil von dem beweist, was sie behauptet. (DS 112-116). (108f)

 

Wie wurde der Beweis nun bewerkstelligt? Auf der Suche nach der anderen Zeit wurde also von vorneherein erkannt, dass es nicht Peters oder Pauls Zeit sein kann, denn deren Zeiten seien ja ohnehin ununterschieden, dem Wesen nach. Die Relativitätstheorie wird hier, semantisch geschickt, vollkommen für blöd verkauft: Sie behaupte, es gäbe da eine andere Zeit aber sie beweise, dass die beiden Beobachter die gleiche Zeit haben…

Dass, was man sich als die von der Relativitätstheorie geforderte „andere“ Zeit vorstellen kann, sei lediglich dieses unlebbare Symbol, also Peters unlebbare Vorstellung von Pauls Zeit. Dieses Symbol markiere aber, „daß dieses und kein anderes System zum Bezugspunkt genommen wird.“ Und dieses Bezugssystem ist „sein [Peters] eigenes System“ und es hat „diese einzige innerhalb eines Systems gegebene Zeit, von der wir eben sprachen“. Das ist die nur numerisch verschiedene aber eben eigentlich eine und gleiche Zeit von Peter und Paul. Und das ist nun auch (leider wird es nicht expliziert) die absolute und dritte Zeit von Deleuze und Bergson. Die Relativitätstheorie beweist also, dass es nur eine lebbare Zeit gibt, das ist die Zeit von Peter und Paul, die nämlich beide in der einzigen Zeit sind. Und dies wird bewiesen, weil die Vorstellung in Peter von Pauls Zeit nicht lebbar ist. Es wurde zwar unglaublich viel geschrieben, aber wie Sie vielleicht erkennen, stehen wir wieder am Anfang: Weil die vorgestellte Zeit des Anderen keine lebbare Zeit ist, wird angeblich bewiesen, dass es nur eine lebbare Zeit gibt, und die sei letztendlich für alle gleich und Achill überholt die Schildkröte. Was hier aber gemacht wird, ist durch ausgeklügelte Wortverdreherei zu vertuschen, dass die angeblich laut Relativitätstheorie gleiche Zeit von Peter und Paul auch die einzige und lebbare ist. Diesen Satz finden Sie so nie bei Deleuze, und doch sagt er es. Explizit sagte er es wohl nicht, weil es bedeutet, sofern man die schönen Worte zur Kontraktion beiseite lässt, dass Peter und Paul eigentlich gleich sind. Wenn Peter Pauls Zeit nur symbolisch fassen kann, beweist dies eben nicht, dass es nur eine lebbare Zeit gibt, denn beide leben ja. Es beweist, dass der eine die Zeit des anderen nicht leben kann. Wenn bewiesen werden soll, dass es nur eine lebbare Zeit gibt, für Peter wie für Paul, so stellt sich zuallererst die Frage, was soll diese lebbare Zeit sein? Es ist eine Worterfindung, die Wirklichkeit von Vorstellung trennen soll. Es ist also die Frage nach der wirklichen Zeit jenseits aller Individuen, Bewusstsein und Beobachter. Diese Zeit gibt es bei Einstein nicht, was aber nicht heißt, in Einsteins Welt würde keiner leben. Da dies auch keiner behaupten will, wird also das konkrete Leben mit dem Wirklichen vermischt. Wenn es heißt, die Vorstellung Peters von Pauls Zeit sei nicht lebbar, wird das konkrete Leben gemeint. Wenn es aber heißt, deswegen gäbe es nur eine lebbare Zeit, wird die Wirklichkeit gemeint. Der einfache Trugschluss hieraus ist: Das Leben ist die Wirklichkeit.

Und die Verwirrungen gehen weiter, wenn es bei Bergson heißt „Da­durch würde Peter im übrigen auch sein Bezugssystem vor­läufig aufgeben, folglich seine Physikerexistenz und sein Bewußtsein; Peter sähe sich selber nur noch mit den Augen von Paul.“ Dies geschieht, wenn es tatsächlich möglich wäre, wenn die Vorstellung der Zeit des anderen lebbar wäre. Aber was geschieht dann? Peter gibt sein Bewusstsein auf – nimmt er dann das Bewusstsein von Paul an? So scheint es zumindest, wenn er sich hernach mit den Augen von Paul sieht. Kurz darauf aber heißt es: „»Peter sieht in Paul keinen Physiker mehr, nicht einmal ein be­wußtes Wesen oder sonst ein Seiendes: Er entfernt aus sei­nem lebendigen Bewußtsein das sichtbare Bild Pauls und nimmt von der Person nichts als ihre äußere Hülle«.“ Dies wiederum hört sich stark so an, als würde das Bewusstsein von Peter in Paul wandern und nicht umgekehrt, wie eben noch beschrieben. Sicher sein kann man sich nicht, zumal „sein“ und „eigen“ nur spärlich mit Namen versehen sind. Freilich ist beides nicht lebbar, beides Fiktion, aber welche Fiktion nun? Weiter lässt sich erkennen, dass das „nicht lebbar“ hier wohl bedeutet, dass eine solche Bewusstseinswanderung nur Fiktion ist. Gewiss ist dies nur Fiktion, aber es beschreibt doch sehr gut, was passieren müsste, wenn der eine den anderen wirklich erleben will, wirklich verstehen will, mit den Augen des anderen. Und hier erkennt Bergson/Deleuze eine Trennung von Bewusstsein und Körper, und genau dieser Aspekt ist für meine Arbeit geradezu fantastisch. Vermutlich unbewusst wird hier, in sich widersprüchlich, dargelegt, wie das, was ich in meiner Arbeit Verkosten und Verkostet-Werden nenne, Ernst und Spiel, funktioniert – und beides ist Fiktion. Alles, was zu tun ist, ist die Wirklichkeit aus dem Spiel zu lassen. Dass dies nicht lebbar ist, kann sogar laut meiner Theorie zum primitiven Leben am Ende des ersten Kapitels nachgelesen werden. Totale Ignoranz gegenüber der Außenwelt (dem unbeschreiblichen Wirklichen) tötet den Organismus ebenso wie totale Ignoranz gegenüber sich selbst. Dennoch kann dies in der Fiktion geschehen, oder wie Bergson sagt: „Da­durch würde Peter im übrigen auch sein Bezugssystem vor­läufig aufgeben…“. Genau, es wird vorläufig aufgegeben, mal der Körper als Bezug, mal die Außenwelt als Bezug, aber zu erklären, wie die Wirklichkeit nun beschaffen ist, lasse ich lieber sein.

Und vielleicht ist genau dies der Grund, warum Deleuze sich in seinen Kino Büchern nicht mit LA JETÉE beschäftigt. Obwohl er reges Interesse zeigt an Filmen mit auffälligen Zeitstrukturen, und LA JETÉE ist ein Paradebeispiel hierfür, und obwohl dieser Film zu seiner Zeit in seinem Land und in seiner Stadt entstand, verzichtet Deleuze darauf, sich über LA JETÉE zu äußern. Aber LA JETÉE stellt die einzige lebbare Zeit eben massiv in Frage, verweist ständig selbstreferentiell auf seine eigene Fiktion und spielt mit dem, wenngleich unlebbaren, der-Andere-Werden oder den-Anderen-zum-Eigenen-Machen. Beides zugleich, in einer absoluten Zeit, erlaubt LA JETÉE jedoch nicht.

Achill und die Unendlichkeit

Deleuze/Bergson lösen hier das Paradox des Zenon dahingehend auf, dass es eine dritte, alle vereinigende Zeit geben müsse, denn sonst könnte Achill die Schildkröte nie einholen. Gäbe es nur, und das ist die Unterstellung an die Relativitätstheorie, zwei Zeiten, nämlich die der Schildkröte und die Achills, dann stellt sich die zweite Zeit als notwendigerweise symbolisch heraus und stemmte sich gegen das Gelebte. Erst wenn man von einer vereinigenden dritten Zeit ausgeht, muss nicht mehr eine andere Zeit „gedacht“ werden, denn das Denken der anderen Zeit ist immer gegen das Leben gerichtet und symbolisch. Deswegen entsteht dieses Paradox erst und in diesem Paradox symbolisiere sich der Unfug der Relativitätstheorie, die die Gleichzeitigkeit aufhebe und solch ein Paradox erst ermögliche. Der Vorwurf ist also, dass diese Herangehensweise nicht wirklich ist und dies verdeutlicht bereits, dass es Deleuze/Bergson darum geht, das Nicht-Symbolische, das vor der Biegung der Erfahrung liegende, einzige Wirkliche zu beschreiben, was Einstein nicht tut, spricht der doch von der Wirklichkeit der Beobachter.

Ich hingegen halte an der Relativitätstheorie fest und löse dieses Paradox auf eine andere Art: Den ganzen Wettlauf zu betrachten und nur den ins Unendliche kleiner werdenden, aber nie verschwindenden Abstand zwischen Achill und Schildkröte zu messen sind zwei grundverschiedene Betrachtungen. Wird der Wettlauf als Ganzes betrachtet, so wird kein Limit gesetzt, die Zeit läuft ab, Achill gewinnt. Wird der Abstand gemessen, so muss notwendigerweise die Differenzmessung bis ins Unendliche gehen, und es gibt auch ein mathematisch definiertes Limit. Die Asymptote geht gegen „Achill erreicht die Schildkröte“, aber es ist eine Asymptote, sie kann nicht erreicht werden. Dies, weil unendlich oft die Zeit gestoppt wird. Unendlich oft die Zeit anzuhalten ist nichts anderes als die Zeit anzuhalten. Man könnte auch sagen, die Zeit wird unendlich oft weiterlaufen gelassen, was das Stoppen negiert, aber nur scheinbar. Die falsche Idee, die dahintersteckt, ist, dass das Ganze durch unendlich viele Teile „eingeholt“ werden müsste. Was aber passiert, ist, dass das Ganze von unendlich vielen Teilen im Sein ausgelöscht wird, zumal alle Relationen verlorengehen.

Es spielt auch gar keine Rolle, ob in Punkto „unendlich“ die Rede von Raum oder Zeit ist. Unendlich macht von vorneherein jeden Ablauf hinfällig. Wenn ich mich unendlich schnell oder langsam bewege, so sagt dies allein gar nichts aus. Unendlich erlangt erst Bedeutung, wenn es in Relation zu etwas Nicht-Unendlichem gesehen wird. A sei also unendlich und B nicht. A kann erst unendlich heißen, wenn B nicht unendlich ist, wären beide unendlich, gäbe es keine Differenzierungsmöglichkeit zwischen A und B, d.h. A wäre B. A sei unendlich viele Äpfel, B sei ein Apfel. Ein Apfel kann nun scheinbar geteilt werden, unendlich viele Äpfel aber nicht, die Teilsumme wäre gleich der Gesamtmenge: unendlich. Nur bei B scheint Teilung möglich und nur Teilung führt zu Bewegung, denn Bewegung ist Veränderung. A ist unveränderlich, unendlich. Unendlich ist zeitlos und raumlos und auch alles andere -los. Unendlich ist absolut, das Ganze, alles, immer, jederzeit und dazu ausdehnungslos. Es ist all dies aber erst in Relation zu einem B, zu einem Nicht-Unendlichen, das zwangsläufig nicht alles, sondern Teil ist, das dazu nicht immer, sondern sukzessive ist und außerdem Ausdehnung besitzt. Aber auch die Bewegung in B erfordert das A. Gäbe es nur B, also wäre alles Sein nur ein Apfel, so könnte dieser nicht geteilt werden, denn B wäre das limitierte Ganze, gleich einer unteilbaren Monade. Unteilbar, weil schlichtweg das Sein (der Einfachheit halber meinetwegen der Raum) fehlt, um eine Teilung vorzunehmen. Aber weder A allein noch B allein beschreibt ein Sein. Was wir „Sein“ nennen, ist immer ein relatives (Unendlich kann auch schlichtweg „Anders“ genannt werden, anders in Bezug auf ein Eigenes, welches dann das Teil wäre. Das Teil verhält sich zum Unendlich wie das Eigene zum Anderen: Das Eigene ist im Anderen, das Andere im Eigenen, dennoch sind beide wesensverschieden. Gäbe es diese Beziehung nicht, handelte es sich um ein komplett Anderes und existierte im System des Eigenen gar nicht, hätte also kein Sein). Sein ohne etwas darin gibt es nicht, und ein Etwas als Alleiniges und Einziges ohne jeden Abstoßungspunkt ist nicht oder besser ist nichts, denn es vermag nicht zu wirken, weder ontologisch noch faktisch, weil es selbst die Bedingung seiner Möglichkeit ist. Etwas, das selbst die Bedingung seiner Möglichkeit ist, kann theoretisch als ein Etwas gefasst werden, aber genauso gut als ein Nichts, es ist ein Zirkelschluss. Der Apfel allein ohne etwas anderes ist kein etwas. Er verhält sich allein wie unendlich viele Äpfel: Wenn es nur den Apfel gibt, wäre jede hypothetische Teilung dieses Apfels wieder ein Apfel, derselbe Apfel, denn wenn es nur das eine gibt und nichts anderes, kann keine Veränderung stattfinden. Bewegung entsteht erst, wenn beide Sphären betrachtet werden (A und B), als ein Relatives zwischen den beiden. Das Sein ist diese relative Bewegung zwischen den beiden Sphären, zwischen dem Ganzen und den Teilen. Die einzelnen Teile können dabei nicht das Ganze beschreiben, auch nicht, wenn man sie unendlich aneinanderreiht. Denn würde man dies tun, ist die Differenz Ganzes-zu-Teil verschwunden und damit auch die Bewegung und das Sein, denn dann würde A zu B, und wenn A gleich B ist kann A wieder nicht beschrieben werden, weil der Abstoßungspunkt fehlt. Der für das Sein und die Bewegung notwendige Wesensunterschied zwischen A und B drückt sich also im Faktor „unendlich aus, jedoch ist dieser Faktor nur theoretisch exakt zu bestimmen, faktisch aber niemals, deswegen erst kommt es ja zu einem Wesensunterschied.

Und genau dies ist das Problem mit dem Faktor „unendlich“ im Paradox des Zenon:

Wird die Zeit unendlich gestoppt oder laufen gelassen, wird nur die eine Sphäre betrachtet (bzw. aus zwei Sphären wird durch den Faktor „unendlich“ eine gemacht), sei es ein Apfel oder unendlich viele Äpfel, was faktisch das Gleiche ist. In dieser einen Sphäre kann keine Bewegung stattfinden, nur eine hypothetische, die immer wieder das Gleiche produziert, sich selbst nämlich. Es wird nur eine Sphäre betrachtet, weil Achill und die Schildkröte irrelevant werden, genauso wie ihre relativen Geschwindigkeiten in Anbetracht der unendlichen Messung. So gesehen erreicht nicht nur Achill die Schildkröte nicht, sondern weder Achill noch die Schildkröte bewegen sich überhaupt. Dass der Abstand der beiden geringer wird, beschreibt keine Bewegung, sondern ist lediglich die hypothetisch, perspektivische Betrachtung eines Stillstands oder eines Ganzen, das nur eine Information enthält: Achill ist nicht die Schildkröte. Was also eigentlich gemessen wird, ist nicht, wie die beiden sich relativ zueinander verhalten, sondern ob A gleich B ist, ob Achill gleich die Schildkröte ist.

Bei Zenon wird nun ihr Abstand herangenommen und geteilt. Aber was ist Abstand? Abstand ist etwas, das in Abhängigkeit zweier verschiedener Objekte (sie sind zwangsläufig verschieden, wenn ihr Abstand nicht gleich null ist) entsteht. Würde er als solcher betrachtet werden, ist er teilbar und beweglich, allerdings in Abhängigkeit der relativ zueinander vollzogenen Einzelbewegungen. Was den Abstand bewegter Objekte betrifft, so gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder er ist null (also er existiert nicht) oder er ist verschieden von null. Ist er verschieden von null, kann er nie exakt angegeben werden, denn die Objekte sind bewegt und bewegt bedeutet „nicht exakt messbar“ (siehe auch Heisenberg). Er kann zwar geteilt werden, denn die Objekte sind ja verschieden, beschreiben untereinander also schon zwei Sphären, aber diese Teilung beschreibt immer ihr Verhältnis zueinander nach dem Schema des Ganzen zu den Teilen, dem Unendlichen zum Endlichen, und würde dies exakt bestimmbar sein, so müsste das Ganze, das Unendliche, eine fixe Zahl sein, was es aber gerade nicht ist. Die Idee der Bewegung entspringt ja erst der Annahme, dass ein Ganzes und ein Teil des Ganzen gleichzeitig sind, wobei das Ganze unendlichmal dem Teil gleichkommt, aber dennoch das endliche Teil als Koexistenz benötigt, um erst unendlich zu sein. Wäre das Ganze limitiert, wäre es nicht wesensverschieden zum Teil und außerdem wäre es kein Ganzes, sondern wieder nur ein Teil in einem anderen Ganzen. (Dies wäre ein System aus einem limitierten Ganzen, 10 Äpfel etwa, und einem Teil, 1 Apfel. Aber dieser eine Apfel ist bereits das ganze System, und was als Ganzes genannt wurde, ist lediglich die hypothetische Vervielfachung dessen. Es handelt sich hier nicht um Ganzes und Teil als zwei Systeme, sondern um limitiertes Ganzes als ein System, welches keine Veränderung hervorbringen kann.) Der Abstand ist also genau deswegen immer in Bewegung, weil die beiden Objekte im Schema Ganzes zu Teilen gegenüber stehen, wobei das Ganze kein Limit kennt, keines haben darf. Was bei Zenon aber gemacht wird, ist, den Abstand zu teilen und exakt anzugeben. Teilen funktioniert aber nur bei bewegten Objekten, die deswegen zwangsläufig in verschiedenen Sphären sind (diese machen die Bewegung), Exaktheit hingegen gilt nur für unbewegte Objekte (die es faktisch gar nicht gibt im Sein). Es werden also Äpfel mit Birnen vermischt. Es wird so getan, als ob der Abstand aus der Bewegung zweier Objekte entstamme, was ihn teilbar macht, aber die Objekte sind für die Messung unbewegt, weil der Faktor „unendlich“ die beiden Sphären zusammenschmilzt. Das Zusammenschmelzen führt nun dazu, dass nach der Teilung das Gegebene sich selbst reproduziert. Aber weil die Objekte eigentlich bewegt und verschieden sind, weswegen der Abstand zwangsläufig verschieden null sein muss, wird immer wieder dasselbe Ergebnis erzeugt, in dieser hypothetischen Teilung, nämlich verschieden null. Der Faktor „unendlich“ führt also zu einer „Wesensmessung“. Wäre das Ergebnis null, dann hätte nicht etwa Achill die Schildkröte eingeholt, sondern er wäre sie geworden (wäre er kleiner null, so wäre Achill vor der Schildkröte, hätte sie aber überholt und man könnte das gleiche sinnlose Spiel weitertreiben und behaupten, er würde nie mehr als einen Meter Abstand herausholen). Da aber die Voraussetzung war, zwei verschiedene Objekte zu messen, kann dies nicht möglich sein, es sei denn, Wesensunterschiede könnten plötzlich graduell unterschieden werden, was gerade Bergson aufs Heftigste bestreitet.

Es geht also um den Schnitt, um die Teilung. Das Paradoxe daran ist, dass exakt nur geteilt werden kann, wenn die Objekte nicht bewegt sind. Sind sie aber nicht bewegt, befinden wir uns in nur einer Sphäre, ein Apfel oder unendlich viele Äpfel, und derartige hypothetische Teilungen produzieren immer das gleiche Ergebnis, nämlich sich selbst, also den Stillstand. Hier         aber wird das feststehende Ergebnis der zwei Sphären (ja, die Bedingung der zwei Sphären) in die sich selbst produzierende Teilung der einen Sphäre übernommen, und das ist unzulässig.

Werden beide Sphären betrachtet, muss, so schmerzlich das auch sein mag, festgestellt werden, dass der Abstand der nunmehr bewegten Objekte nicht anzugeben ist. Zwar können wir dies praktisch ausreichend genau tun (oder etwa durch ein Limit wie das Integral), wie auch Newtons Mechanik ausreichend genau auf die Erde anwendbar ist, aber ontologisch ist dies falsch. Genau dies beschreibt das berühmte „als ob“, das absolut lebensnotwenig ist. Es ist das „als ob“ die Teile bewegt wären oder das „als ob“ sie nicht bewegt wären, das „als ob“ wir die beiden Sphären exakt beschreiben könnten oder das „als ob“ wir nur in einer lebten, welches erst erlaubt, Hypothesen zu schaffen, die dann wie Matrizen über die Welt gezogen werden, um uns in ihr zurechtzufinden, jedoch ist diese Welt Fiktion, und wie Deleuze/Bergson zu Recht bemerkt Symbol, allerdings bleibt nichts anderes, und der Versuch, hinter die Biegung dieser Fiktion zu blicken und das „als ob“ auszuschalten, ist verwegen und nichts anderes als Glauben und keine Wissenschaft oder Philosophie.

Stattdessen aber können wir sehr wohl das relative Verhältnis der beiden zueinander bewegten Objekte angeben. Die Bewegungen, die die beiden Objekte haben, und der bewegliche Abstand, den sie damit beschreiben, können zwar nicht in einem exakten Schnitt auf eine fixe Zahl reduziert werden (die Zeit kann nicht angehalten werden ohne auch die Bewegung der Objekte anzuhalten), aber ihr Wechselwirken kann doch im  Wahrscheinlichkeitsbereich angeben werden. Unter gleichbleibenden Bedingungen gewinnt Achill den Wettkampf, zwar nicht sicher, aber ziemlich sicher. Nicht sicher, weil Achill zur Schildkröte (oder andersherum) ebenfalls im Verhältnis Ganzes-zum-Teil steht, d.h. exakt angegeben werden kann nur, dass Achill nicht die Schildkröte ist/wird, aber wie genau er sich zu ihr verhält (wie der Abstand ist) kann nie genau bestimmt werden, denn zwischen der Schildkröte und Achill steht die ganze Masse der Andersheit. Achill ist relativ anders als die Schildkröte. Und diese Andersheit ist es, die uns dazu bewegt zu glauben, dass Achill gewinnt, denn diese steht wiederum in Relation zu den gegebenen Umweltbedingungen auf der Rennbahn, und wir unterstellen dem Wesen von Achill in Relation zu diesen Bedingungen, besser gewappnet zu sein, was die Geschwindigkeit anbelangt. Im Wasser sieht dies vielleicht schon ganz anders aus.

Das, was Zenon da zu denken gibt, ist wie eine Vorwegnahme der Heisenberg´schen Unschärferelation, die uns das Eingeständnis abnötigt, dass wir vieles nicht wissen können.

  1. Deleuze, Gilles: Henri Bergson, zur Einführung.
  2. Deleuze, Gilles: Henri Bergson, zur Einführung, Seite 111:„In der Relativitätstheorie hingegen ist die Angleichung der Zeit an den Raum notwendig, um die Unabänderlichkeit der Ferne auszudrücken, sie wird sogar ausdrücklich ins Kalkülverfahren einbezogen; eine wirkliche Verschieden­heit wird nicht mehr anerkannt. Kurz, die Relativitätstheo­rie hat das Raum-Zeit-Konglomerat besonders eng mitein­ander verschweißt.“ Es stellt sich die Frage, wer hier Verschiedenheit negiert.
  3. Wiersma, Otto B.:  Conscious In Time. The Bergson-Einstein-debate about the Duration of SpaceTime.
Nach oben scrollen