Wachsein im Traum – Theoretische Überlegungen, Analyse und Interpretation von Chris Markers LA JETÉE

2.3. Theorie zur Analyse: Der dunkle Zwischenraum der Gegenwart

 

Ein klassischer, narrativer Film zeigt all seine Handlung im Präsens1 – dank der Bewegung, weswegen er, wie bereits im ersten Kapitel erwähnt wurde, gerne als wirklich oder real betrachtet wird. Das heißt nicht, dass der Zuschauer deswegen nicht trotzdem dieses Präsens suspendieren kann und in seiner Wahrnehmung eines solchen Films hypothetisiert, konjunktiviert oder erinnert. Die Machart des Films kann dies befördern oder unterdrücken, auch die Aufführungssituation und schließlich auch die Verfasstheit des Zuschauers. Aber LA JETÉE scheint ein Film zu sein, der weniger präsentisch ist und dennoch wirklicher als klassische Filme, trotz seiner synthetischen Machart.

Das Präsentische ergibt sich vor allem daraus, dass der Film abläuft und deswegen reaktionsfordernd ist, wie Bergsons dauernde Melodie, bei der ein Ton zwar den nächsten vorwegnimmt und in seinem Vorgänger aufgeht, das Entscheidende dieser Dauer aber immer noch die Linearität ist und die damit gegebene Abgrenzung zur räumlichen Zeit, in welcher Simultanität herrscht.2 Aber LA JETÉE läuft nicht (ab). Einmal laufen die Bilder nicht, dann ist nicht auszumachen, von wo nach wo er sich bewegt, zumal Anfang und Ende nur sehr schwer, wenn überhaupt, auszumachen sind, und weiter ist er in sich nicht kohärent, sondern fragmentarisch auf Bildebene, kryptisch in textueller Hinsicht und Uneins im Zusammenschluss von Bild und Text, was den Ablauf ebenfalls verhindert.

Das Präsentische im klassischen Film ist nun nur scheinbar ein gegenwärtiges, eigentlich ist es genau das Gegenteil. Der Film scheint zwar immer in der Gegenwart zu sprechen (freilich gibt es immer auch Momente, die individuelle Abschweifungen erlauben), aber diese Gegenwart konstruiert sich aus dem Dualismus von Zuschauererinnerung und Bewusstsein. Letzteres ist nun fast ganz vom Film bestimmt, weil der Zuschauer den Film nicht „anhalten“ oder „umbauen“ kann ohne den Zugang zum Film zu verlieren. Es ist also nur eine scheinbar zweipolige Struktur der Erfahrung, die hier beschrieben wird. Das Jetzt des Zuschauers wird von seiner wirklichen Umwelt getrennt und in den Film verlagert. Dieses Jetzt wird also zum relationslosen Maß. Gleichzeitigkeit kann so nur noch scheinbar bestimmt werden. Deswegen spricht der klassische Film vielleicht gar nicht immer in der Gegenwart, sondern in der Einzeit, einer Sphäre, in welcher es nur diese eine Zeit gibt, einer Sphäre, die auch die Ignoranz aller anderen Zeiten/Welten/Dauern erfordert.

In LA JETÉE präsentiert sich der Film in einer Zerrissenheit, die aber nicht durch die fiktive Geschichte einer Zeitreise zustande kommt. Stattdessen ist es der (wie oben beschrieben) immer wieder fehlende oder gestockte Ablauf. Dieser Film bietet nicht eine Narration als Ersatz für die abgedunkelte Umwelt, er bietet viele. Ähnlich Bazins Vision der unendlichen Tiefenschärfe3, welche dem Film den Charakter der Realität verleihen sollte, wird auch hier durch die Vielheit der Auswahl und die fehlende Fokussierung auf einen Leitfaden eine wirkliche Gegenwart konstruiert, die zwar nichts mit Realität, aber doch mit wirklicher Erfahrung zu tun hat, wie sie uns tagtäglich in der Welt begegnet. Und dies wird nicht erreicht durch realistische Darstellungsweise, sondern durch eine gegenteilig wirkende synthetische, denn LA JETÉE ist nur eine Diashow.4

Und die Gleichzeitigkeit konstruiert sich in LA JETÉE nicht durch das Duo von Filmbewusstsein und Zuschauererinnerung, sondern durch die gleichzeitige Vielheit Film, welche von einem jeweils anderen Zuschauerbewusstsein konstruiert wird, das den Film als Gedächtnis sieht. Auch Einstein konnte bereits erklären, dass Gleichzeitigkeit an sich nicht existiert. Sie hängt ab vom Beobachter/beobachtenden Bewusstsein. Viele dieser Beobachter machen aus dem Zeitpunkt der Gleichzeitigkeit eine raumzeitliche Spanne. Die Gleichzeitigkeit im klassischen Film und die daraus abgeleitete Gegenwärtigkeit ist eine subjektive Illusion, die nur dann entsteht, wenn der Zuschauer alle/alles anderen/andere Zeiten/Welten/Narrationen/Bewusstsein ignoriert und sich mit dem Film einigt. Ein derartiger gemeinsamer Ablauf  hat allerdings nichts mit Gegenwart, gegenwärtig oder Vergegenwärtigen zu tun. Es ist also kein wacher Ablauf, kein bewusster, sondern ein immersiver. Es ist wie das im theoretischen Teil beschriebene Spiel, das Der-Andere-Werden, die Ignoranz gegenüber der eigenen Not des Lebens.

Der Zuschauer befindet sich, wie bei jedem Film, idealerweise im abgedunkelten Kinosaal. Gegenwart lässt sich im absolut Dunkeln (ohne Film) fast genauso schwer konstruieren wie unterschieden werden kann, ob man sich in einem frei fallenden Fahrstuhl oder in einem Metallkasten in Schwerelosigkeit befindet. Würden alle Sinne komplett unterdrückt werden, wäre Gegenwart im wahrsten Sinne des Wortes gegenstandslos geworden. Der Kinozuschauer hat nun zumindest seinen Körper und auch die Abdunkelung bzw. Dämmung der Umwelt ist nicht ganz perfekt. Im Idealfall aber wäre sie das. Gegenwart ist nun kein Faktum, sondern eine Konstruktion. Sie setzt sich zusammen aus einem wahrnehmenden Bewusstsein und hiervon abgetrennten Dingen oder Ereignissen, die dieses Bewusstsein wahrnehmen kann und als gleichzeitig zur Wahrnehmung sich ereignend einstuft, erst dann spricht man von Gegenwart. So zeigt sich bereits, dass die Einschränkung der Wahrnehmungsfähigkeit, zumindest alles außer den Film betreffend, der Konstruktion von Gegenwart nicht sonderlich dienlich ist. Der Film nun soll über die beiden angesprochenen Sinne, nämlich Sehen und Hören, dieses abgedunkelte Außen komplett füllen. Versuchten wir uns nun vorzustellen, wir wären ein Wesen mit nur diesen zwei Sinnen, oder aber der Film würde alle fünf Sinne ansprechen, dann wäre der Film die Realität. Diese Vorstellung erscheint noch recht plausibel, solange man sich eine Immersion wie z.B. im Film THE MATRIX vorstellt, in welcher eine Person sich in eine Welt einloggt, in der sie sich dann frei bewegen kann. Ein klassischer Film erlaubt es aber nie, dass der Zuschaue sich in seiner Fiktion frei bewegen kann und auch der Platz, den er der Personalität Zuschauer bietet, ist sehr beengt. Der klassische, narrative Film frisst den Zuschauer eher auf. Dies kann er aber nur, wenn der Zuschauer all seine Sinne in den Dienst des Filmes stellt und genau das ist die Idee der Abdunkelung, wobei mit Abdunkelung nicht unbedingt gemeint ist, dass derartige Filme im Dunkeln konsumiert werden müssen, um zu funktionieren. Abgedunkelt wird vor allem die Gegenwärtigkeit eines Bewusstseins außerhalb der Diegese des Films. Abgedunkelt wird eigentlich die Gegenwart des Zuschauers, d.h. die Verbindung oder gleichzeitige Existenz von der Not des Lebens des Zuschauers (welche größtenteils bestimmt selbst „nur“ Fiktion ist) mit seinem aktuellen Bewusstsein. Das heißt, der Zuschauer verliert seine Gegenwart, weil sein Bewusstsein (Bewusstsein als Geschichtenerzählzentrum) dem des Filmes weicht und er seine Not des Lebens (seinen Körper, seine bedrohliche Umwelt, seine konstruierte Identität) in die Hände des Filmbewusstseins legt, in die filmische Narration. Der Zuschauer wird der Andere, verliert er doch die Kontrolle über sein eigenes Bewusstsein.5 Nicht der klassische Film wird vom Zuschauer verkostet, der Film verkostet den Zuschauer. Und die Aktivierung des individuellen Gedächtnisses beim Zuschauer ist nicht selten eine Ausweitung des Bewusstseins/der Narration des Films auf das persönliche Leben des Zuschauers und nicht, wie vermutet werden könnte, ein Durchbrechen dieser Narration.6 und damit – wie Marie-Laure Ryan es ausdrückt – als „interactivity in the figural sense“. Was ich hier beschreibe, klingt zwar manchmal wie Partizipation, ist es aber gemäß dieser Beschreibung nicht, denn es findet kein unreglementiertes Handeln am repräsentationalen System statt, weswegen dieser Begriff bei mir keine Verwendung findet.] Somit scheint es das Filmesehen selbst zu sein, welches zuvorderst das kollektive Gedächtnis 7 hervorbringt, denn ein jeder färbt seine Filmsichtung zwar individuell, aber alle stellen ihr persönliches Gedächtnis in den Dienst des gleichen Films, der gleichen Geschichte. Film konstruiert also kollektives Gedächtnis erst, bevor er es ausnutzen kann, falls er das überhaupt tut. Denn wenn Film jedesmal wieder den Zuschauer entführt, spielt es keine Rolle, wie genau das Gedächtnis aussieht. Haben viele Zuschauer die gleichen Filme gesehen und folglich die gleichen Erinnerungen, so wird hierdurch vor allem die gemeinschaftliche Bindung dieser Gruppe verstärkt; das heißt aber nicht, sie könnten den ein oder anderen Film besser verstehen – nur eben anders. Die Wirkungen eines solchen kollektiv geschaffenen Gedächtnisses sind dann eher im wirklichen Leben der Filmschauer zu entdecken, wenn sie wieder bei ihrem eigenen Bewusstsein angelangt sind, welches nun, zumal das individuelle Gedächtnis von einem anderen (Film-) Bewusstsein umsortiert wurde, ebenfalls verändert ist. Das kollektive Gedächtnis meiner Auslegung beschreibt also weniger Inhalte wie Szenen oder Bilder, mit denen uns die Medien vollstopfen wie beispielsweise das Foto eines verschwundenen Mädchens. Solches Gedächtnis ist eigentlich nicht kollektiv, wenngleich gleich. Aber der Kontext, wie dieses Bild abgespeichert und wie es erinnert wird, kann kollektiv sein. Wer die Medienberichte der verschwundenen Madeleine verfolgte, wie die meisten Menschen des westlichen Kulturkreis es taten bzw. tun mussten, der wird wohl in diesen Pool des kollektiven Gedächtnisses fallen. Wer nur das Satiremagazin TITANIC las, der erinnert diese Bilder in einem ganz anderen Kontext. Das Bild selbst ist keine Geschichte, aber nur die Geschichte oder die Konstruktion der Narration, kann kollektives Gedächtnis werden, denn nur diese ist in der Lage, ein Bewusstsein zu sein, welches individuelles Gedächtnis zu entführen vermag und den Zuschauer auffrisst.

LA JETÉE bietet keine solche Narration, kein solches Bewusstsein an, in welches der Zuschauer seinen Körper und seine Erinnerung werfen könnte. Stattdessen wird die ausgeblendete Umwelt/Not des Lebens im Film wiedergegeben als eine neue Umwelt, werden die Bilder des Films zum eigenen Gedächtnis und damit zum eigenen Körper, welcher von einem Bewusstsein geordnet bzw. narrativiert werden muss. Wenn LA JETÉE selbst Gedächtnis ist, dann ist es der Zuschauer, der erinnert, also narrativiert, die Geschichte erzählt. Er ist somit aktiv, bei (seinem) Bewusstsein und erfährt den Film ähnlich wie die Welt oder seinen eigenen Körper, nur dass er diesmal weiß, dass diese Welt konstruiert sein muss, weil er selbst körperlos geworden ist. Gerade die Stilisiertheit von LA JETÉE, also die Einzelbilder und die literarisch sprechende Stimme, tragen zu diesem Wirklichkeitserlebnis bei, was jedoch nicht heißt, die Geschichte selbst erscheine wirklich.

Wenn also, wie oben beschrieben, narrativer Film über seine narrative Struktur die Individuen gemeinschaftlich zu vereinen vermag, so wirkt LA JETÉE als nicht immersiver Film eigentlich individualisierend. Jedoch ist die Geschichte von LA JETÉE selbst immer noch Fiktion. Wenn das gemeinschaftliche Erlebnis am Beispiel der verschwundenen Madeleine8 durch den medialen Kontext, also die Struktur der Erzählung, zu ihr erschaffen wird, dann verzichtet LA JETÉE auf diese Struktur, erzwingt das bewusste Wachsein des Zuschauers, tauscht aber das individuelle der Erinnerung durch die Bilder von LA JETÉE aus und erlangt so dennoch ein gemeinschaftliches Erlebnis, allerdings anders. Was nun gemeinschaftlich verbindet, ist das Gleiche, die gleichen Bilder, das gleiche Gedächtnis. Es ist also weniger ein Kollektiv, weniger ein gemeinschaftlicher Zusammenschluss als vielmehr die gleiche Basis. Aufbauend auf diesem gemeinsamen kleinsten Nenner erschafft jeder Zuschauer seine eigene Geschichte. Das Vereinende von LA JETÉE rührt also daher, dass zum einen von vielen Individuen die gleichen „Bilder und Fragmente“ für die Narration verwendet werden, zum anderen, dass diese Fragmente wie der Traum perspektivlos sind.9

So aber schafft es LA JETÉE zum einen, den Zuschauer wach und bewusst zu halten, denn er muss die Geschichte erzählen bzw. erinnern und ihn zum anderen über das Gleiche der Erinnerungsbilder an einem „gemeinschaftlichen“ Traum teilhaben zu lassen. Dabei gelingt die Kreation der Fiktion umso besser, je weniger der Film der Perzeption der Realität entspricht und je mehr er gleichzeitig dennoch wie die Realität funktioniert, allerdings nicht wie deren Perzeption, sondern wie deren Konstruktion. Zu Ersterem findet sich bei Metz eine passende Passage:

„“Im Theater“, schreibt seinerseits Giraudoux, „werden dem Zuschauer Imaginationen dargeboten, aber jede dieser Imagination ist mit einem Körper und mit distinktiven Geschlechtsmerkmalen ausgestattet“. Nach der Meinung von Rosenkrantz wird der Zuschauer eher dazu aufgefordert, gegenüber diesen so realen Schauspielern Stellung zu nehmen, als sich mit den Personen zu identifizieren, die sie verkörpern. Ihr fleischliches Gewicht „widersetzt“ sich der Versuchung, die die Zuschauer bei jeder Vorstellung empfinden, die Schauspieler als Protagonisten eines fiktiven Universums zu betrachten. Das Theater kann nur ein freiwillig akzeptiertes Spiel sein, das unter den Mitspielern abrollt. Dadurch, dass Theater zu real ist, erzeugen die Theaterfiktionen nur einen schwachen Realitätseindruck; hingegen beruht nach Jean Leirens der Realitätseindruck, den der Film erzeugt auf keinen Fall auf einer starken Gegenwart des Schauspielers, sondern ganz im Gegenteil auf dem schwachen Grad der Existenz dieser schemenhaften Kreaturen, die sich auf der Leinwand bewegen und die unfähig sind, sich unserer dauernden Versuchung zu widersetzen, sie mit einer „Realität“ auszustatten, die diejenige der Fiktion (Idee der „Diegese“) ist, einer Realität, die nur durch uns geschaffen wird…“10

Das Schemenhafte des Films, welches hier gegenüber dem Theater die Fiktion begünstigt, ist wie das Synthetische von LA JETÉE, wie z.B. die Einzelbilder, die sich kurioserweise auf die gleiche Art und Weise vom bewegten Film abgrenzen. So wird tatsächlich die Fiktion gestärkt. Aber nicht nur. Gleichzeitig wird die Funktionsweise der Realität imitiert, einer Realität, die uns ebenfalls ständig mit Leerstellen aufwartet und keinen runden, narrativen Lauf finden will, bei den allermeisten Menschen zumindest – hoffe ich.

LA JETÉE spielt in einem Zwischenraum, der sich verhält wie die Realität, aber geschaffen wird durch Künstlichkeit. Nur so kann ein Mehr an Wirklichkeit und Interaktivität auch ein Mehr an Fiktion erreichen.11 Im klassischen, narrativen und immersiv wirkenden Film hingegen blockiert Interaktivität die Immersion und Wirklichkeit wird eher mit fotografischem Realismus oder physikalischen Gesetzen in Zusammenhang gebracht als mit ihrer psychischen Erfahrbarkeit, was immerfort erkenntnistheoretische Probleme aufwirft. Allerdings stellt diese Theorie auch unsere Wirklichkeit massiv in Frage und lässt sie konstruiert erscheinen wie eine Fiktion, wie eine Erinnerung, die sich aus den Bildern zusammensetzt, denen wir täglich begegnen.

Das Schichtenschema im Anhang (Seite 123) soll das oben Beschriebene noch einmal verdeutlichen.

  1. Was freilich nur teilweise stimmt. Eine Auflistung der Argumente dafür und dagegen findet sich z.B. bei: Scherer, Christina: Ivens Marker, Godard, Jarman – Erinnerung im Essayfilm, 2001, Seite 57ff.
  2. Scherer kommt mit Sobchack genau zum gegenteiligen Schluss, dass nämlich Film nicht linear abläuft. Stattdessen befinde sich Film in Protention und Retention und sei deswegen nicht nur gegenwärtig, sondern auch gleichzeitig zukünftig und vergangen. Dabei mache Film „…die Existenzform des Sehens, d.h. die Struktur und den Prozeß subjektiven Sehens durch einen Körper, in einem Strom sich bewegender Bilder, sichtbar.“ Scherer, Christina: Ivens Marker, Godard, Jarman – Erinnerung im Essayfilm, Seite 66.

    Das Kriterium kann aber meines Erachtens nicht der Körper, d.h. die Perspektive oder der Abstraktionsgrad des Gezeigten sein (was eine Verbindung mit dem Gedächtnis verbieten kann), was Sobchack aber so äußert, wenn sie bei digitalen Medien, welche ohne (räumliche) Perspektive und Gedächtnis arbeiten könnten, doch von „absoluter Gegenwart“ spricht. Ich denke, nicht die Perspektive des Zuschauers oder seine Erinnerung sind ausschlaggebend, denn auch unperspektivische und abstrakte Filme können präsentisch sein und laufen ab, weil sie eine zeitliche Perspektive haben, die Linearität nämlich, und außerdem dürfte so bei Film nie der Eindruck des Präsentischen entstehen bzw. der Eindruck des Präsentischen wird vom Präsentischen als linearem Ablauf abgetrennt betrachtet und nicht erklärt. Sukzession von Bildern allein aber schafft schon eine Perspektive für sich, die gerade ausschlaggebend ist für den präsentischen Ablauf. Und klassische Filme können ebenfalls präsentisch sein, im Sinne der Einzeit (siehe weiter unten). Das wahre Kriterium, ob ein Film präsentisch ist oder nicht, ist, wie sich zeigen wird, die Gleichzeitigkeit verschiedener zeitlicher Perspektiven. Nur eine Perspektive führt zum Eindruck des Präsentischen.

  3. Bazin, André: Die Entwicklung der kinematographischen Sprache.
  4. Vgl. auch: Ryan, Marie-Laure: Immersion vs. Interactivity: Virtual Reality and Literary Theory, Absatz 19: „The effacement of the impersonal narrator and his freedom to relocate his consciousness anywhere, at any time and in whatever body or mind conveys the impression of unmediated presence: minds become transparent, and events seem to be telling themselves. The mobility of the sensors that apprehend fictional worlds allow a degree of intimacy between the reader and the textual world that remain unparalleled in nonfiction. Paradoxically, the reality of which we are native is the least amenable to immersive narration, and reports of real events are the least likely to induce participation. New Journalism, to the scandal of many, tried to overcome this textual alienation from nonvirtual reality by describing real-world events through fictional techniques. In the television domain, the proliferation of „docu-drama“ bears testimony to the voyeuristic need to „be there“ and to enjoy fiction-like participation, not only in imaginary worlds, but also in historical events.” LA JETÉE ist künstlich und erzeugt deswegen diese „intimacy“ auch, wenngleich er funktioniert/narrativiert wird wie die Realität.
  5. Der Andere ist dabei keine Person oder Perspektive. Der Andere ist ein Bewusstsein, wie der Eigene auch, also die Narration, die Geschichte selbst. Besser als zu sagen, der Zuschauer identifiziere sich mit der Rolle XY oder der Kamera oder der Erzählersituation, sollte es heißen: Der Zuschauer identifiziert sich mit dem Film- oder noch besser: Der Film identifiziert sich mit dem Zuschauer.
  6. Vgl. Neitzel, Britta/Nohr, Rolf F.: Das Spiel mit dem Medium, Seite15: „Diese Art der Partizipation kann verstanden werden als ein auf Interpretation gerichtetes hochaktives und nicht reglementiertes Handeln am repräsentationalen System […

  7. Hier von „kollektivem Gedächtnis“ zu sprechen muss nicht zwangsläufig eine Anspielung auf Maurice Halbwachs sein. Diese Arbeit verwendet das von ihr beschriebene kollektive Gedächtnis vor allem im Hinblick auf gemeinsame Narrationen der Individuen, also im Hinblick auf das Spiel. Das Hauptaugenmerk liegt also nicht auf dem Kollektiv, auf dem Eingebundensein, Kommunizieren und Sich-Bewegen im sozialen Milieu, sondern auf der gemeinsam (nicht notwendigerweise gleichzeitig) erlebten Narration (nicht Story).
  8. Ist es Zufall, dass sie den Namen des Proust’schen Gebäcks trägt, den Namen von VERTIGO’s Heldin, den Namen Chris Marker’s Lieblingsthemas, der Erinnerung? Ich verbleibe in der Illusion, dass es Zufall sein muss, denn sonst wäre die ganze Welt mein Traum und ich Max Stirners Einziger.
  9. Wenn sich ein Volk durch und mit einem Führer für den totalen Krieg entscheidet, so ist das Gemeinsame nicht die Narration, also dass alle den gleichen „Film“ erleben und nur Statisten sind in einer Vorführung, die ihnen den Einsatz zum Applaudieren vorgibt. Stattdessen macht jeder auf der gleichen Basis, unter den gleichen (schlechten) Lebensbedingungen und unter dem Einfluss der gleichen Bilder und charismatischen Gestalten seinen eigenen „Film“. Das Vereinende ist weniger der Traum des Triumphs als der Albtraum der Realität, und dieser ist, unabhängig von der Perspektive, für alle gleich. Und der Führer erhält seine kolossale Macht nicht, weil er eine Geschichte erzählt (Traum des Triumphs), die alle mitreißt, sondern weil er das Geschichtenerzählen thematisiert, indem er die aktuelle Umwelt und Gegenwart – als die gemeinsame Basis mit dem Volk – nie aus der Geschichte verschwinden lässt, was dazu führt, dass jeder seine eigene Geschichte macht und selbst aktiv wird, aktiv gefordert wird im zustimmenden JA des Volkes. Er hat die Macht des Geschichtenerzählers, die sich in der Aktivierung der Zuhörer gründet. Er selbst kann nur bedingt Macht erschaffen oder lenken, das Entscheidende sind die schon gegebenen Umstände, was aber keinesfalls Schuld absprechen soll, ganz im Gegenteil, weder für den Erzähler noch für den aktiven Hörer.
  10. Metz, Christian: Semiologie des Films, Seite 29.
  11. Vgl. Ryan, Marie-Laure: Immersion vs. Interactivity: Virtual Reality and Literary Theory, Absatz 37: “In computer-generated VR, immersion and interactivity do not stand in conflict–or at least not necessarily. Immersion may offer an occasional threat to interactivity“3, but the converse does not hold. The more interactive a virtual world, the more immersive the experience. There is nothing intrinsically incompatible between immersion and interactivity: in real life also, the greater our freedom to act, the deeper our bond to the environment.” An anderer Stelle bemerkt sich auch, dass beide gleichzeitig nie möglich sind, aber ein steter Wechsel der beiden durchaus funktionieren kann. In gewisser Weise funktioniert LA JETÉE also  vielleicht wie die von Ryan beschriebene Virtual Reality. Jedoch kann dieser Begriff nicht verwendet werden, da zum einen die umfassende Definition Ryans hierzu nicht immer mit dem in LA JETÉE von mir beschriebenen Wachsein im Traum übereinstimmt, zum anderen, da ich versuche primär dem Film gerecht zu werden und die hierzu benötigte Theorie auf ein selbst entworfenes Prinzip der Kommunikation und dessen Herleitung aus dem primitiven Leben erstelle.
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