Es wird nie darüber gesprochen warum Umay (Sibel Kekilli) ihren Ehemann Kemal (Ufuk Bayraktar ) verlässt und mitsamt ihrem Sohn aus der Türkei nach Deutschland flieht. Die Abtreibung und der nahtlos daran anschließende, ungeschützte Geschlechtsverkehr mit ihrem Mann deuten allerdings auf kein entspanntes Leben hin. Nur gehört sie eben trotzdem zu ihrem Mann, so sieht das zumindest ihre in Deutschland lebende, türkische Familie, schließlich will man keine Schande. Bald aber wird klar, dass Umay nicht zurück gehen wird und der Konflikt spitzt sich unaufhaltsam zu. Erst muss Umay um ihr Bleiben kämpfen, dann um ihren Sohn, schließlich um ihre Ehre und dann kommt es noch schlimmer.
Feo Aladag lässt sich viel Zeit, so dass DIE FREMDE sich langsam und ruhig entfalten kann. Die Musik hält sich meist zurück und passend zum ruhigen Schnitt und den vielen totalen Einstellungen ist auch jede Menge Nichts zu hören. Das gibt dem Film eine unumstößliche Wirkung, unumstößlich wie das Hochhalten der drakonischer Familiengesetze, gegen die Sibel Kekilli wieder und wieder erfolglos anrennt, seit GEGEN DIE WAND. Jedoch stellt sich mit der Zeit die Frage, warum eine Frau wie Umay, die derart auf ihre Selbstbestimmung pocht und sich gegen die Tradition eines ganzen Landes durchsetzt, so oft und so hilflos zu ihrer Familie zurückkehrt. Der Entzug der Liebe der Eltern ist wohl die schlimmste Bestrafung für ein Kind, aber die unaufhörlichen Kontaktversuche Umays zu ihrer Familie wirken nicht minder fanatisch, wie deren Ehrverständnis. Vielleicht stört dieser Punkt aber auch nur, weil DIE FREMDE über sehr lange Zeit (2 Stunden) immer wieder und wieder dasselbe Dilemma aufzeigt. Dabei glaubt man dem fröhlichen Gesicht von Kekilli in manch glücklichem Moment gerne, dass sie das Schlimmste überwunden hat, denn wie gewohnt schaltet sie von einem Moment auf den anderen von Regenwetter auf Sonnenschein, so unbedarft, dass gar der Glaube an ihre Trauer stellenweise schwindet.
Kenner türkisch, islamischer Familienverhältnisse mag es vermutlich einleuchten, warum die eine Tochter für Sex vor der Ehe belohnt wird, während die andere, die ihrem Mann davon läuft, als Hure versagt. Alle anderen werden sich eher wundern; zurecht? Insgesamt ist das Bild der türkischen Familie in Deutschland ambivalent gezeichnet. Der von Settar Tanrıöğen hervorragend gespielte Vater Kader kommt zwar ins Schwanken, hält aber hart den Kurs. Anders der jüngste Sohn Acar (Serhad Can), der sichtlich Mühe hat die kulturelle Last zu tragen. Wie bei Almodóvar wacht die Mutter aus dem Hintergrund wie ein guter Geist über das alles. Schlimm wird es allerdings, wenn die Männer ohne Frauen ihre Köpfe zusammenstecken und Pläne schmieden. Für die Ehre müssen eben alle Register gezogen werden.
Trotz der gemächlichen Gangart von DIE FREMDE wird nichts plattgeredet. Viele Szenen verlaufen verblüffend wortlos und gut, der Rhythmus stimmt – ob das am Schnitt liegt? Allerdings treibt auch nichts, stattdessen Reihen sich die Szenen auf wie die Perlen einer Kette. Wie am Schnürchen findet Umay gleich einen anderen der sie liebt, es scheint trotz allem ganz einfach, aber die Leidenschaft fehlt. Und auch die Ehre wird zusehends leidenschaftsloser verfochten und verkommt zur Pflichtübung mit bitterem Beigeschmack. Am Ende bleibt Leere und die Traurigkeit von Max Richters Musik, in die sich der Film gut einfindet.
Information:
Deutscher Vorschlag für den fremdsprachigen Oscar 2011
Engl. Titel: When We Leave
Deutschland 2010
Dauer: 119 Minuten
Regie/Drehbuch: Feo Aladag
DoP: Judith Kaufmann
Musik: Stéphane Moucha, Max Richter
Darsteller: Sibel Kekilli, Nizam Schiller, Derya Alabora, Settar Tanriogen, Serhad Can, Almila Bagriacik, Tamer Yigit, Alwara Höfels, Florian Lukas, Blanca Apilanez Fernandez, Mustafa Jouni
Genre: Drama
Im Kino ab: 11.03.2010
Im Web:
Die Fremde in der IMDb
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