Was ist POLL? POLL ist, wenn viele Fernsehredaktionen, die sich gerne kulturell und künstlerisch hochwertig nennen, an einem Strang ziehen, für einen Film. POLL ist, wenn viele deutsche und auch noch europäische Fördertöpfe einen Film für wichtig halten und sponsern. POLL ist, wenn zum Film gleich das medienpädagogische Handbuch mitgeliefert wird, damit auch keine Zweifel aufkommen. POLL ist, wenn zur fiktionalen Story natürlich noch Themen wie Menschenwürde, Determinismus, Literatur, Geschichte und Erziehung etc. verhandelt werden sollen, was ein Film der lehrreich sein will durchaus braucht. POLL ist, wenn am Premierentag zur Nachtvorstellung sieben Zuschauer im kleinesten Kinosaal des Multiplexkinos sitzen.
Aber nein, POLL ist nicht das deutsche Kino, das wir kennen und hassen, der Film ist anders. Poll ist vor allem ein kleiner Gutshof am Arsch der Welt, irgendwo in Estland, am Meer gelegen, mit einem Ungetüm von einem Haus im Wasser, dass Palladio genannt werden will, zumindest außerhalb des Films. Ein mächtiges Säulenportal in der Mitte, gesäumt von Holzaufbauten mit Balkonen an beiden Seiten, alles meterhoch über dem Wasser und verfallen wie eine Berliner Partylocation. Dahin kommt Oda (Paula Beer) aus Berlin mit ihrer toten Mutter, die hier in der alten Heimat ihre letzte Ruhe findet. Womit der Film schon bei seinem Thema wäre: Tod und Verwesung. Oda bleibt jetzt bei ihrem Vater Ebbo (Edgar Selge), der Toten im ehemaligen Sägewerk den Schädel aufsägt – für die Wissenschaft. Das ganze spielt am Vorabend des ersten Weltkriegs, noch wird im Baltikum deutsch gesprochen, aber es bröckelt bereits gewaltig und das Militär ist ohnehin immer präsent, gilt es doch die aufständischen Esten zu töten. Moder und Verfall prägen die Bilder wie die Menschen. Alles stirbt, geht zugrunde oder verwest bereits. Man ahnt den Tod schon, wenn die ganze Familie Aufstellung nimmt zum Gruppenbild und fragt sich, wie die da noch Apfelsine sagen können.
„O denk daran, es nützt dir keine Flucht, Er lebt in dir wie in der süßen Frucht.“, heißt es in Oda Schaefers Gedicht „Gedenke des Todes“. Die Schriftsellerien und Lyrikerin bildet die reale Vorlage der kleinen Oda, vielmehr jedoch als die Worte, die Regisseur Chris Kraus der Rolle Oda in den Mund legt, scheinen die beiden nicht gemein zu haben. Obwohl der Film mehr von poetischer Stimmung als von zielgerichteter Dramaturgie lebt, scheint das Ergebnis mehr Gottfried Benn zu bebildern als Oda Schaefer. Passenderweise schnippelt Ebbo auch an Leichen herum, entgegen der historischen Vorlage. Von der süßen Frucht der Oda Schaefer hingegen ist wenig zu sehen, der Film zieht es vor kalt und widerlich zu bleiben. Dabei bewegt er sich über weite Strecken kaum von der Stelle, genauso wie Herr Schnaps (Tambet Tuisk), der estnische Anarchist, den die kleine Oda unter dem Dach des laboratorischen Sägewerks versteckt hält und der es einfach nicht schafft zu fliehen.
Wie in DIE ELEGANZ DER MADAME MICHEL existiert mit Oda die Rolle eines kleinen, jedoch extrem klugen und weisen Mädchens, das trotz des kindlichen Köpers vorgibt nicht kindlich zu sein. Sie wird dadurch zur reinen Kunstfigur, die emotionale Kälte schön verbreitet. Den Erwachsenen hat es allerdings schon immer gefallen, wenn Kinder so tun als ob sie erwachsen wären, vielmehr noch, als wenn sie es wirklich sind; das rührt (siehe hier). Vielleicht rührt es gerade deshalb, weil man das „so tun als ob“ so deutlich sieht, wie bei Paula Beer. Andere Schauspieler gewinnen Preise, weil sie eben dies verbergen. Seine Nase kann Richy Müller auch als Mechmershausen nicht verbergen und auf den ersten Blick mutet sie in Estland sehr merkwürdig an. Doch schnell kauft man ihm seine fabelhaft gespielte Rolle mitsamt Dialekt ab, denn er bildet einen der wenigen grifffesten Anhaltspunkte des Films. Anders Edgar Selges Ebbo. So herrlich verloren es der Schauspieler schafft in der Gegend herumzustehen, so diffus und sprunghaft ist doch die Rolle, die er verkörpern soll. Er bleibt verwackelt und schwankend, ähnlich der Kameraflüge über den Gutshof. Tambet Tuisk schließlich füllt seine Rolle ganz und gar nicht schlecht, aber irgendwie wirkt auch er, als spielte er einen estnischen Schauspieler, mehr noch als einen Schriftsteller, der er sein soll. Das muss wohl das Poetische von POLL sein.
Was also ist POLL nun? Auf jeden Fall ein äußerst ambitionierter Film mit einem bemerkenswerten Setting, einer beklemmenden Stimmung ohne Perspektive, viel Ekel, ein ganz klein wenig Geschichte und nicht allzu viel Drive. Und was ist er nicht? Er ist nicht DOKTOR SCHIWAGO, nicht FANNY UND ALEXANDER nicht BRIGHT STAR und reicht irgendwie auch nicht an GRIPSHOLM heran. Stattdessen zielt er an allem vorbei. Was man dem Film zugute halten muss ist, dass man Oda Schaefer jetzt wieder kennt. Aber Chris Kraus hat da ein vermodertes, verstaubtes, morbides Ding ausgegraben, das gar nicht von Schaefer vergraben wurde. Er ergötzt sich daran, ohne den Staub weg zu blasen oder den Geruch der Verwesung durchzulüften. Stattdessen fängt sich alles in weißen Leinen, konserviert in Formaldehyd oder wird betäubt mit Chloroform. Dennoch ist das einzige, was verdichtet, das Super35 Bild. Vielleicht hätte der Film nicht zum Lehrstück gemacht werden sollen, noch bevor er in die Kinos kommt. Vielleicht sollten Filme überhaupt nicht lehrreich sein. Und vielleicht sollten Filme nicht gefördert und belagert werden. Vielleicht. POLL ist trotzdem ein besonderer Film und weil man so etwas nicht alle Tage sieht: Gut.
Information:
Engl. Titel: The Poll Diaries
Österreich, Deutschland, Estland 2010
Dauer: 129 Minuten
Regie: Chris Kraus
Drehbuch: Chris Kraus
DoP: Daniela Knapp
Schnitt: : Uta Schmidt
Darsteller: Paula Beer, Edgar Selge, Tambet Tuisk, Jeanette Hain, Richy Müller, Enno Trebs, Erwin Steinhauer, Yevgeni Sitokhin
Im Kino ab: 03.02.2011
Im Web:
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