Enter The Void (2009)

Enter the VoidBesonderer Film: Das Werden auf Gaspar Noéisch.

Gaspar Noé hat sichtlich Gefallen daran das Medium Film auszutesten. Schon in IRREVERSIBEL legte er großen Wert darauf dem Informationsfluss des Dramas neue Wege zu eröffnen. In ENTER THE VOID verfährt er ähnlich, wobei diesmal dem Wie des Zeigens besondere Aufmerksamkeit zukommt. Der Film erzählt nämlich aus der Subjektiven des kleinkriminellen Drogendealers Oscar (Nathaniel Brown); mitsamt Blinzeln. Das könnte bei einem Film von über zweieinhalb Stunden gefährlich nervtötend werden, weswegen es nicht ganz ungelegen kommt, dass Oscar bald eine Kugel einfängt. Als dezentralisierter Geist klebt die Subjektive fortan meist taumelnd unter der Zimmerdecke, in der Lage sich überallhin frei zu bewegen, weswegen Schnitte nicht mehr nötig sind; zumindest theoretisch nicht.

Manchmal lässt sich die emotionale Aufgewühltheit von Oscars Geist an den Umdrehung pro Minute ablesen, die die Kamera beschreibt. Sie fliegt wie eine Schnapsdrossel mit verbogener Optik in Bullet Time durch die engen Räume, wo Licht ruckelt und blitzt, Oben und Unten sich verlieren und Menschen ein Schauspiel darbieten, das weit größer ist, als was man gewöhnlich „am Stück“ zu begreifen in der Lage ist. Der Film ist ein Spektakel, ein Erlebnis, ein wilder, durchdringender Traum. Er ist viel mehr als das vordergründig auf Sex und Drogen fixierte Milieu seiner Figuren. Er bringt den durchgeknallten Drogentrip, der in TRAINSPOTTING in den uferlosen Keller gesunken ist zurück auf den Teppich und selbst die unzähligen an Pornographie grenzenden Bilder nackter Körper und entblößter Brüste haben irgendwann nichts mehr mit Lust zu tun.

So viel Langsamkeit und Gemächlichkeit Stanley Kubrick in 2012 auch unterstellt wird, im Vergleich zu Noé‘s Art die Leerstelle zu füllen war zumindest Kubricks Eindringen ins schwarze Loch ein wahrer Rush. Denn in ENTER THE VOID eiert die Erzählung/ Kamera wie eine Flipperkugel von Leuchtreklame zu Nervenzusammenbruch, von Glühbirne zu Hinterkopfalptraum, von Ausguss zu Eruption, stößt in alle erdenklichen Arten von Tunnel und hat es nur kurzzeitig eilig, wenn es heißt den Schauplatz zu wechseln, denn jeden Meter Straße, jedes Dach, jeden Hinterhof und jede Seitengasse soll der Zuschauer mitnehmen, und immer schön gegen den Strich der Architektur!

ENTER THE VOID vertont und bebildert unsere kühnsten Vorstellungen dergestalt, dass uns die Luft wegbleibt. Doch dank einer Bildersprache, die konkret wird ohne ihre Diffusion aufzugeben, können wir trotzdem noch atmen. Der einst von Bazin hochgelobte Realismus, der unter anderem entstünde, wenn die Einstellungen wie in der Realität nicht mehr unterschnitten werden, wird ad absurdum geführt. Der Film ist dunkel und dennoch leuchtet er, er ist bunt und dennoch sind die Farben blass. Die Bilder verschwimmen vor dem geistigen Auge Oscars und somit dem Auge des Zuschauers. Dann entstehen Strukturen scheinbar aus dem Nichts. Aus einer Ahnung wird eine Form, verschwindet, verwandelt sich in etwas anderes und im nächsten Moment reiht sich eine weitere Szene ein in diesen transzendenten Reigen, der zwischen Traum, Beobachtung, Erinnerung, Taumel und Weissagung durch die Zeit springt.

Oscar und seine Schwester Linda (Paz de la Huerta) sind Waisen, irgendwie in Tokyo gelandet und irgendwie als Drogendealer und Go-go-Girl durchs Leben stolpernd. Sie hatten keine schöne Kindheit und wollen nun selbst auf sich acht geben. Nicht ganz einfach für Oscar, der sich immer mehr aufzulösen droht. Glück für ihn, dass er dank seiner Drogenfreunde schon transzendente Nahtoderfahrungen gesammelt hat und diese auch zu deuten weiß. So hält er sich den Horrortrip vom Leib und Noé gibt dadurch quasi vorab eine Anleitung, die auf alles vorbereitet, was in den nächsten Stunden geschehen wird. Eine gute Entscheidung. Der verrückte Traum den uns Gaspar Noé da präsentiert hat einen Namen: Wir nennen ihn Leben. Und wer das Leben aus der unkonzentrierten „Perspektive“ betrachtet, die ENTER THE VOID uns nahelegt, der wird festsellen, dass dramatische Konstrukte verblassen, während simpelste Formen faszinieren: Ein Nippel wird so zum A und O.

Information:

Frankreich 2009

Dauer: 145 Minuten

Regie: Gaspar Noé

Drehbuch: Gaspar Noé, Lucile Hadzihalilovic

DoP: Benoit Debie

Schnitt: Marc Boucrot, Gaspar Noé

Darsteller: Paz de la Huerta, Nathaniel Brown, Cyril Roy, Olly Alexander, Masato Tanno, Ed Spear, Emily Alyn Lind, Jesse Kuhn

Genre: Drama, besonderer Film

Im Kino ab: 26.08.2010

Im Web:

Enter the Void in der IMDb

Bilder und Trailer zur Filmkritik Enter the Void auf der offiziellen Website



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