Der freie Wille (2006)

der freie willeJürgen Vogel starrt in die Gegend. Er dreht und wendet sich, doch er sieht immer nur das Gleiche. Rotz und Wasser bringt die Freiheit, in einem unbändigen Film.

In seinem Buch „Das unbeschriebene Blatt“ räumt der Leiter des Center of Cognitive Neuroscience am MIT, Steven Pinker, mit dem Mythos des unbeschriebenen/undeterminierten Seins auf und kommt dabei unter anderem auf Sexualstraftäter zu sprechen. Dabei ist sein Ansinnen keinesfalls nur der Natur die Schuld zu geben, vielmehr weißt er darauf hin, dass es in vielen Bereichen nach wie vor problematisch sei zu bemerken, dass nicht nur die Umwelt, sondern eben auch die Natur bestimmt, wie wir sind. Wenn nun der männliche Sexualtrieb Ursache für Vergewaltigungen ist, sind es ja letzten Endes die Genen. Die Kritik, welche auf derlei Aussagen niederprasselt, dürfte nicht zuletzt deswegen so heftig ausfallen, weil so Menschen scheinbar gebrandmarkt werden, noch bevor sie je etwas Böses tun. Auf der anderen Seite werden die Täter so vermeintlich freigesprochen, denn wer kann sich schon seiner Gene erwehren? Trotzdem sollte man hierbei nicht vergessen, dass es keinesfalls Gene gibt, welche wie auch immer geartetes Sozialverhalten beschreiben. Gene sprechen nicht die Sprache der Menschen und die Ausbildung einer wie auch immer gearteten Körperlichkeit hat zwar zweifellos Einfluss auf das soziale Subjekt, ist aber mitnichten der einzige Einfluss. Nach wie vor wagt es zum Glück keiner aufzuwiegen, wie viele schöne Erinnerungen kombiniert mit welchen Genen und wie viel Lux Sonnenschein zu einem ausgeglichenen Menschen führen. Diese Rechnung enthält so unglaublich viele Faktoren, dass sie dem Nachrechnen allen Seins im Kosmos gleicht, was von einem menschlichen Geist mitsamt Supercomputer, der noch nicht einmal die Daten für das Wetter richtig auslesen kann, nicht zu bewältigen sein wird. Noch nicht einmal der Geist des Laplaceschen Dämon kommt gegen die Chaostheorie oder Heisenbergs Unschärferelation an, vor Überdeterminierung müssen wir uns vorerst also nicht fürchten. Aber wie viel kann der Wille wirklich leisten?

Theo (Jürgen Vogel) fürchtet sich sehr wohl, denn was er in sich trägt, will sich an Frauen vergehen, sie vergewaltigen und schlagen, das weiß er nur zu gut. Nach neun Jahren ist er wieder draußen und erkennt selbst, wie blöde es sich anhört, wenn er sagt, er wolle ein Vorbild sein, in einer Welt der sozialen Verwahrlosung, in der Kinder mit zwölf Sex haben. Vielleicht redet er deswegen so spärlich, genau wie die wenigen anderen Figuren die Regisseur Matthias Glasner an Bord holt, um den Kampf eines Mannes gegen seine Triebe zu beschreiben. Immer wieder spürt Theo es kommen. Er mag Frauen nicht. Will sie schlagen, Fotze nennen und ficken, in der Reihenfolge. DER FREIE WILLE thematisiert aber weder die Gewaltproblematik, noch die Themen Macht, Sex oder Versagen, welche alle nur diffus angedeutet werden. Stattdessen ist nur die Rede von einem Es, und dieses Es kommt und stürzt sich auf Frauen. Keine Ursachenforschung, keine Heilung. Nur eine Prämisse: Theo will diesem Trieb wirklich nicht mehr folgen. Um ihm eine Chance zu geben, spielt ihm der Film eine Partnerin zu, der die Psyche nicht weniger gestutzt wurde als Theo. Netti (Sabine Timoteo) und Theo haben noch eine Gemeinsamkeit: Sie schnauben und schnaufen wie ein Team Asthmatiker nach einer Camel Trophy ohne Autos. Was die Schauspieler damit zum Ausdruck bringen, ist ihr Problem mit den Menschen, oder besser: Das Problem das sie mit sich selbst haben, wenn sie auf andere Menschen treffen. Netti ist gerade erst den Klauen ihres sie psychisch und vermutlich auch körperlich drangsalierenden Vaters entkommen, mit 27. Theo bemüht sich redlich, doch DER FREIE WILLE scheint sich auf die Seite Pinkers zu schlagen und macht es ihm immer schwerer.

DER FREIE WILLE ist digital und billig gedreht und sieht manchmal fürchterlich aus. Die sehr langen aus der Hand gefilmten Einstellungen werden selten unterschnitten, wobei die Choreographien mehr an scripted Reality als an Spielfilm erinnern. Obwohl so sehr viel Dramatik verschenkt wird, nimmt der Film immer mehr Fahrt auf, was auch am irrsinnig guten Jürgen Vogel liegt. Auch Timoteo’s zu Beginn übertrieben verkrampft wirkende Darstellung von Netti fügt sich bald harmonisch in das traurige Bild zweier Getriebener ein. Dass der Film mehr als zweieinhalb Stunden am Leben bleibt, verdankt er einem kompromisslosen Drehbuch, das auch vor abwegigen und konstruiert wirkenden Szenen nicht zurückschreckt, solange sie nur die Spannung und den Thrill erhalten. DER FREIE WILLE will an die Nieren gehen und es gelingt ihm, er will anders sein und ist es, er will dem freien Willen auf den Zahn fühlen und auch diese Rechnung scheint aufzugehen. Obwohl der Film im Hinblick auf Triebtäter wenig authentisch erscheint, wird das psychische und physische Ringen um die Herrschaft des Selbst nachvollziehbar portraitiert. Ein merkwürdiges Ungetüm, dieser Film. Genau wie der Wille.

Ähnliche Filme:

Die Klavierspielerin

Information:

Deutschland 2006

Dauer: 163 Minuten

Regie: Matthias Glasner

Drehbuch: Matthias Glasner, Judith Angerbauer, Jürgen Vogel

DoP: Matthias Glasner  Ingo Scheel

Darsteller: Jürgen Vogel, Sabine Timoteo, Manfred Zapatka, André Hennicke, Judith Engel, Anna Brass

Genre: Drama

Im Kino: 24.08.2006

Im Web:

Der freie Wille in der IMDb

 

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