Klass (2007)

KlassGrenzenlose Wut. Wie fühlt sich jemand, der mit einer Waffe zur Schule kommt, um Mitschüler zu erschießen? Erleichtert. Fühlen sie mit. Die Antwort auf Gus van Sants unbeteiligten ELEPHANT.

Einmal muss Kaspar (Vallo Kirs) in der Schule den Stift mit beiden Händen festhalten, damit er nicht zittert, soviel Adrenalin rauscht gerade durch sein Blut. Für ihn ist es neu, der Niedertracht und Ignoranz seiner Klassenkameraden ausgesetzt zu sein. Joosep (Pärt Uusberg) hat da weitaus mehr Erfahrung, er ist der „Freak“ der Klasse und bekommt regelmäßig sein Fett ab. Als Kaspar beginnt sich für ihn einzusetzen wird alles schlimmer, viel schlimmer. Regisseur und Drehbuchautor Ilmar Raag genügen nur einige Tage im Leben der beiden, um sie an den Punkt zu führen, den Politiker, Presse und Pädagogen in hundert Jahren nicht verstehen wollen. Warum sie das getan haben, muss in KLASS wirklich keiner fragen. Die einzelnen Kapitel/Tage werden durch Überschriften wie „Bist du schwul?“ oder „Bist du ein Freak?“ eingeleitet. Die gelassene, wenn nicht lakonische Musik der clipartigen Bildmontage zu Beginn der Kapitel führt dann zum entsprechenden Abenteuer des Tages für Joosep und Kaspar. Da sie jeden Tag in die Schule müssen, müssen sie auch jeden Tag wieder damit rechnen verprügelt, verhöhnt und gepiesackt zu werden. Von Seiten der (nicht ganz zu unrecht) als zumeist dämlich und kurzsichtig gezeichneten Pädagogen ist keine Hilfe zu erwarten, ganz im Gegenteil. Wo fachliche Kompetenz vielleicht noch vorhanden sein mag, sind sie auf dem Gebiet der Menschenkenntnis allesamt Versager. Lediglich eine Lehrerin scheint überhaupt Interesse zu haben, dem merkwürdigen Verhalten der meist geschlossen agierenden Klasse auf den Grund zu gehen, doch ihre unbeholfene Pädagogik verschlechtert die Lage der Schikanierten nur.

Von Zeit zu Zeit übertreibt der Film ein wenig, lässt die Figuren erstarren anstatt zu reagieren oder die Ungerechtigkeit noch größer erscheinen als sie ist – jedoch hält sich diese Überspitzung erschreckenderweise stark in Grenzen. Die schnell aufsteigende Wut, ob der unverfrorenen und rücksichtslosen Art der nur auf sich selbst bedachten und der Gruppendynamik folgenden Jugendlichen, wird lediglich von Angst und Ohnmachtsgefühlen unterbrochen. Ob es nun um Ehre geht, wie der Film suggeriert, oder um Stolz, Gerechtigkeit oder Anstand, spielt letzten Endes keine Rolle. So oder so verlieren Kaspar und Joosep die Würde vor dem Menschsein; dem eigenen wie dem der anderen. Geschlossen wird die Zwickmühle der zum Versagen verurteilten Kids schließlich in ihren Elternhäusern, wo der eine enttäuscht wird von den ewigen Missverständnissen mit seiner ihn „erziehenden“ Oma, und der andere sich vor seinem waffenliebenden Vater zu retten versucht, der offensichtlich vom Geldverdienen ebenso wenig versteht wie von Kindern. Die Szenerie wirkt aber weder gestellt noch überzogen. Der eigentliche Schmerz wird keinesfalls durch klischeehafte Aufzählungen wie Arbeitslosigkeit, Computerspiele, Drogen und gewalttätige Umgebung generiert, wie es die Medien gerne tun. Für den Verlust des Halts sorgen vielmehr die vielen Enttäuschungen, die Kaspar und Joosep allseits entgegenschlagen, denn keiner will sie verstehen oder weiß ihre Bemühungen alles gut zu machen zu schätzen. Am schlimmsten wird es für Kaspar, als sich seine Freundin gegen ihn entscheidet. Er hätte besser auf dieses rückgratlose Miststück verzichtet, möchte man ihm zuflüstern, doch es hilft nichts.

Die Jugendlichen spielen samt und sonders hervorragen auf, allen voran Pärt Uusberg, dessen Körper sich zum sprechenden Organ der Gefühle verwandelt. Die Bilder sind unspektakulär schlicht und doch durchdacht treffend gewählt. Die Erzählung bleibt zurückhaltend und erspart sich übermäßige Dramatisierungen. Diese Distanz lässt das Geschehene umso realer und schmerzhafter erscheinen. Der Name einer der bösen Jungen lautet Anders. Sie werden ihn tot sehen wollen. Und dennoch sollte dieser Film zum Pflichtprogramm an allen Schulen werden, denn er spricht in der Sprache, die die Jugendlichen verstehen. Vielleicht wird er nicht die Anders dieser Welt bekehren, eher schon die Mitläufertypen und dummen Mädchen, die dann aber hoffentlich erkennen, was definitiv nicht cool ist.

Ähnliche Filme:

Elephant

Information:

Engl. Titel: The Class

Estland 2007

Dauer: 99 Minuten

Regie: Ilmar Raag

Drehbuch: Ilmar Raag

DoP: Kristjan-Jaak Nuudi

Musik: Martin Kallasvee, Paul Oja, Timo Steiner

Darsteller: Pärt Uusberg, Vallo Kirs, Lauri Pedaja, Paula Solvak, Mikk Mägi

Genre: Drama

Im Kino: 15.10.2009

Im Web:

Klass in der IMDb

[amazon_enhanced asin=“B0031NAVSE“ container=““ container_class=““ show_border=“false“ larger_image=“false“ price=“All“ background_color=“FFFFFF“ link_color=“000000″ text_color=“0000FF“ /]

Nach oben scrollen