Der schlaflose Mann – Kurzgeschichte

Es war einmal ein Mann, der konnte nie schlafen. Nachts, wenn in der Stadt die Lichter ausgingen und die Menschen nach einem harten Arbeitstag die süßen Träume des erholsamen Schlafs genossen, lag er wach in seinem Bett und grübelte nach. Er grübelte nach über sich und die Welt und nicht selten kamen ihm dabei ganz ausgezeichnete Ideen in den Sinn, etwa wie man eine Maschine bauen könnte, die den Haushalt erleichtern würde, die Antwort auf die Frage, warum Butterbrote von Mamas immer bis zum Rand beschmiert wurden – ja, sogar den Sinn des Lebens hatte er so schon vor Augen. Früher hatte er sich noch ab und zu die Mühe gemacht seine Ideen aufzuschreiben. Dann hastete er meist im Dunkeln zu seinem Schreibtisch um Papier und Stift zu suchen, so gedankenverloren, dass er sich einmal den kleinen Zeh brach, weil er gegen sein Regal lief und anschließend weder seine Gedanken aufschreiben noch schlafen konnte. Später merkte er dann, dass Aufschreiben nichts half. Zum einen konnte er dann noch weniger schlafen, zum anderen konnte er sich doch nie aufraffen seine Ideen zu verwirklichen bzw. sie so aufzubereiten, dass er sie anderen präsentieren konnte, ohne dass er für verrückt gehalten würde. Später fand er sich dann damit ab, dass er mit seinen Ideen allein bleiben würde, in schlaflosen Nächten, und das alles erschien ihm mehr und mehr wie ein Traum, so dass er sich manchmal fragte, ob er vielleicht nur träumte, dass er nicht schlief. Da er jedoch jeden Tag aufs Neue so müde und antriebslos war, verwarf er diesen Gedanken bald wieder. Er bemühte sich auch bald nicht mehr am Leben der anderen Menschen Teil zu nehmen, es war ihm zuviel und ein Gräuel obendrein. Schließlich hatte er doch schon alles gedacht, im Geiste praktisch schon alles gesehen und erlebt. Es langweilte ihn, alles noch einmal mit den Mühen der Körperlichkeit nachzuspielen. Außerdem hatte er ja seine schlaflosen Nächte, in die er sich immer mehr zurückzog, die ihm Zuflucht boten. Er war kein glücklicher Mann, aber genau genommen, war er auch kein unglücklicher Mann. Jeder findet sein Glück an einem andren Ort. Mit der Zeit jedoch wünschte er sich zu träumen, wirklich zu träumen, nicht nur diesen wirren Dämmerzustand seiner Gedanken. Er erhoffte sich davon, all seine Ideen und Gedanken Wirklichkeit werden zu lassen. Es war ihm egal, dass Träume eigentlich keine Wirklichkeit sind, ihm waren sie genug, d.h. dass, was er sich darunter vorstellte, war ihm genug. Er wollte einen Zustand erreichen, in dem er sich die Dinge nicht mehr künstlich vorstellen musste, wie in seinen schlaflosen Nächten, sondern in dem alles echt erschien, ohne dass er den Gedanken hätte, er würde nur denken. Das war ihm genug Realität: Er wollte vergessen, dass er dachte.

Da ihm dies aber nicht gelang, wurde er sehr unglücklich, so unglücklich, dass er Zahnschmerzen bekam und sich beim Zahnarzt einen Termin geben lassen musste. Als es dann soweit war, ließ er sich keine Betäubungsspritze geben, denn irgendwie kam ihm alles nicht real vor, er dachte ja andauernd. Der Schmerz, als der schrille Bohrer seinen Nerv zerfetzte, war ganz unglaublich für ihn. Er breitete sich wie glühendes Eisen in seinem Mund aus und schoss mit enormen Druck in seinen Kopf, dass ihm gleich die Tränen kamen und durch seine Kehle ein derart hochfrequenter Ton seinen Weg durch den gespreizten Mund fand, dass selbst der schrille Bohrer die Sprache verlor und sofort verstummte. „Ich sagte ihnen es würde schmerzen!“, sagte die junge Zahnärztin und lächelte ihn an, nicht etwa weil sie sich über ihn lustig machen wollte, sondern weil er ein derart erschrockenes und verdutztes Gesicht machte, wie ein kleines Kind, das gerade gelernt hat, dass man seine Finger nicht auf die heiße Herdplatte legen sollte. Hinter diesen verstört dreinblickenden Augen spielte sich währenddessen ein nahezu anti – descartsches Heureka Erlebnis ab: Ich fühle also bin ich. Wenn ich fühle denke ich nicht, also bin ich real. Nennen wir diesen Moment den Zeitpunkt seines Erwachens.

Er wird im Nu seine Zahnschmerzen vergessen und eine geschlagene Stunde mit der jungen Ärztin über seine Gedanken sprechen, die diese merkwürdigerweise sehr interessierten werden, ohne ihn für verrückt zu halten. Zwar würde die Ärztin sehr verwundert sein, dass die Zahnschmerzen so schnell verflogen sein würden und noch mehr würde sie wundern, dass die Zähne gar keinen Grund gehabt haben werden zu schmerzen, jedoch werden die beiden, da sie sich so gut unterhalten gehabt haben werden, ein Treffen vereinbaren und schon bald werden sie ein Liebespaar sein. So wird dann auch ihre erste gemeinsame Nacht kommen, der beide schon lange entgegengefiebert haben werden und etwas ganz wunderbares wird passieren. Der Moment in dem beide, ganz Mensch, wie das Sein sie schaffen würde, im Bett liegen werden, er sie spüren wird, ihren Kopf auf seiner Brust, das Gewicht des Dufts ihres Haars auf seinem Körper – in diesem Moment wird er einschlafen und träumen.

Wäre dies ein Märchen, würden die beide bis an ihr Lebensende glücklich und verliebt vor sich hinträumen, aber leider, sie dachten sich das wahrscheinlich schon liebe Leser, sind Worte nie Märchen, zumindest nicht nur, dazu sind sie viel zu gedankenlos. So gedankenlos wie das Wort leider im voran gegangenen Satz.

Der schlaflose Mann wird also seinen Schlaf und seine Träume finden, immer wenn der Duft seiner Geliebten seinen Körper und vor allem seine Gedanken beschweren wird. Doch die arme Zahnärztin wird ihren Geliebten bald vermissen, der immer einschläft, der ihres Erachtens überhaupt viel zu gerne schläft, den ganzen Tag verschläft, die Liebe verschläft. Gerne würde sie sich wieder so angeregt mit ihm unterhalten, wie zu Begin, doch der schlaflose Mann wird sich verändert haben, wird seine Gedanken verloren haben, wird der schlafende Mann sein, der wiederum unglücklich ist, weil er immer alles verschläft, weil er sein Mädchen doch so liebt, alles für sie tun will, immer bei ihr sein will, doch es wird wie ein Fluch sein, er wird immer wieder einschlafen müssen, wenn er sie im Bett in seine Arme nehmen will, wird immer die schönsten und wichtigsten Momente seines Lebens verschlafen…

Sie wird sich von ihm trennen und er wird sehr unglücklich sein, so unglücklich wie er es noch nie war, noch nicht einmal als schlafloser Mann. Und zu diesem wird er wieder werden – wenn sie fort sein wird – wird seine Gedanken wieder finden und seine Träume verlieren. Doch er wird unglücklicher sein denn je. Ihm werden nicht nur die Träume, sondern auch die Liebe fehlen, nicht nur die Träume auch die Realität wird ihn verstoßen haben. In seiner Verzweiflung wird er wieder beginnen seine Ideen aufzuschreiben, konsequenter als früher, bald wird er nichts anderes mehr tun, als sich mit Worten auseinanderzusetzen, er wird bald kein Mensch mehr sein, kein Gedanke – kein Gefühl, kein Traum und kein Leben – sondern nur ein Wort. Das Wort das er sein wird ist aus. Da aber aus ohne an keine Bedeutung hat, wird das schlaflose Wort aus Teil eines Systems das Aus An heißen wird. Da Aus An aber keine Bedeutung hat ohne andere Worte, die aus oder an sein werden und Worte immer Bedeutung haben wollen, wird es bald den Mixer geben. Der Mixer wird die Orangen benötigen. Die Orangen machen die Bäume, die Bäume die Natur, die Natur die Erde und die Erde das Universum. Nie würde es ein Wort gegeben haben, das gewusst haben würde, dass es nur ein Wort wäre. Kein Wort würde gewusst haben, das es Menschen gab, die keine Worte gewesen sein würden, niemand würde das gewusst haben, wer könnte das schon gewusst haben, nicht einmal ich kann das wissen, der Gott meiner Worte.

Es ist spät geworden, mein ich hofft, dass es jetzt endlich schlaf finden wird, dass es Stift und Papier weglegen kann, das Licht löschen und Träume finden wird, das hofft mein ich, und ich auch, und außerdem hoffe ich, dass wenigstens Hoffnung ein wenig mehr ist, als nur ein Wort.

Barcelona, 11. 10.2004   2:40am

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