Schon mal im blassen Mondlicht mit dem Teufel getanzt? Lars von Trier verköstigt die Welt am Nullpunkt.
Immer wieder wird Lars von Trier unterstellt, er therapiere sich mit seinen Filmen selbst. Würde dies auf MELANCHOLIA zutreffen, dann wäre Therapie für Trier nichts anderes als der ganzen Welt ein Attest ihrer Verrücktheit auszustellen – außer den Verrückten, denn die haben vollkommen Recht. Wer da Recht hat ist Justine (Kirsten Dunst). Ihre Schwester Claire (Charlotte Gainsbourg), die ihr Leben im Gegensatz zur depressiven und zerstörerischen Justine fest im Griff zu haben scheint, darf nur im ersten Teil des Films Oberhand behalten. Passenderweise betitelt der Film diesen ersten Teil mit dem Namen JUSTINE — den Kern eines Menschen sieht Trier offenbar erst dann offengelegt, wenn auf nichts mehr Verlass ist. Genau diese Beschreibung trifft anfangs auf Justine zu, die gerade ihre überteuerte Hochzeit im Golfschloss des Schwagers John (Kiefer Sutherland) feiert. Eindringlich wird sie gewarnt keine Szene zu machen, wo man sich noch fragt, wieso gerade sie mit dieser Warnung belegt wird, wo sich um sie herum sowohl Vater (John Hurt), Mutter (Charlotte Rampling), als auch Chef (Stellan Skarsgård) derart daneben benehmen, dass man eine schlimmere Szene gar nicht erwarten möchte. Doch es kommt viel schlimmer. Am Ende hat es Justine geschafft, dass selbst ihre nachsichtige Schwester sie hasst. Alles liegt in Scherben.
Das Gesicht von Dunst scheint prädestiniert zu sein für die Figur Justine, der hinter dem aufgesetzten Lächeln eine verkorkste Unsicherheit anzumerken ist, die im Zweifelsfall zu allem bereit ist, jenseits aller Schranken. Ebenso kauft man den natürlichen Zügen Gainsbourgs sofort die ehrliche Offenheit von Claire ab. Eine Lügnerin nennt Claire ihre Schwester, und sie hat recht. Scheiße nennt Justine die falsche Welt ihrer Schwester, und sie hat recht. Doch um dies begreifbar zu
machen, dreht MELANCHOLIA die Welt erst auf den Kopf. Bereits zu Beginn begrüßte der Film mit hochgradig stilisierten Superhighspeed-Aufnahmen, die eine interplanetare Kollision der Erde vorwegnehmen, wie ein griechischer Chor oder besser: In einem God’s View, wie schon in BREAKING THE WAVES. Es ist die den Fortlauf der Zeit fesselnde Faszination von Zerstörung und Leid, welche hier eine der tragischen Katharsis ähnliche Versöhnlichkeit heraufbeschwört, während alles im wahrsten Sinne des Wortes den Bach hinab geht. Im zweite Teil des Films, CLAIRE, rückt der Zeitpunkt der Kollision immer näher, doch Claire’s Mann John gibt Entwarnung: Der Planet Melancholia wird die Erde passieren.
John repräsentiert im Film die selbstbewusste Ausgeburt einer positiven Wissenschaft, die weder exakt genug ist, die Welt, die auf sie baut, zu stützen, noch verantwortungsvoll genug, für die Menschen da zu sein, wenn die Not am größten ist. Er verzichtet auf die Abgründe der menschlichen Seele und sieht in seiner abzählbaren Welt selbst Glück als käuflich an. Sein Gegenteil spiegelt sich in Justine’s esoterischem Pessimismus wieder, der sie im Laufe des Films immer mehr zur Hexengestalt macht, ähnlich Gainsbourg in Trier’s ANTICHRIST. Ihre größte Tugend, vormals noch als Lüge verschrien, ist die Zuflucht in die Fantasie. Sie lässt von allem ab, zerbricht die Welt um sich in Stücke und flüchtet in sich selbst – an den einzigen Ort, der von keiner Macht der Welt bezwungen werden kann. Am Ende sind die Lügen von Justine nichts anderes als der Versuch, die unerträgliche Welt erträglich zu gestalten; mit einem beherzten Schritt nach vorn, einem großen Zug aus der Whiskeyflasche oder einem wilden Galopp auf des Teufels Handlanger. Die von ihrer eigenen Ehrlichkeit überzeugte Claire hingegen muss den Zusammenbruch ihrer erfundenen Welt mit ansehen und unterliegt am Ende der Voraussicht ihrer Schwester: Hilfe ist von außerhalb nicht zu erwarten, denn weder gute Worte noch Prügel verleihen der erhabenen Leere des unendlichen Nichts einen Sinn, am Ende ist der Mensch in sich selbst gefangen.
Es ist wohl nicht anzunehmen, dass Trier sich mit seinen Filmen selbst therapieren will. Der sich introspektiv vermutlich
am Kassandra-Syndrom leidend sehende Regisseur versucht stattdessen die ganze Welt zu heilen, indem er sie in seinen Wahnsinn einweiht. Dies gelingt durch explizite und allegorisch überspitzte Bilder, von deren Symbolgehalt man schlichtweg erschlagen wird. Die Welt therapieren!? Wer gegen Windmühlen kämpft, darf sich nicht wundern, wenn er früher oder später in der Klapsmühle landet. Ein Hoch auf Lars Quijote, der einschließlich sich selbst alles und jeden kaputt schlägt, um die Welt an den Punkt zu führen, wo ein Gefühl mehr Gewicht hat als die Masse des Universums.
MELANCHOLIA ist (außer dem God’s View) erneut mit wackelnder Handkamera im elliptisch geschnittenen Dogmastil erstellt, wenngleich verhaltener angewandt, als in anderen Werken dieser Art. Alles spielt an einem Ort, wie Vinterberg‘s DAS FEST, der zwar Ähnlichkeit mit MELANCHOLIA’s erstem Teil aufweist, aber in eine ganz andere Richtung zielt. Die klassische Musik wird sehr spärlich, dann aber rigoros um sich greifend eingesetzt. Die Stimmung ist stets gefährlich angespannt, denn Trier lässt seine treffend besetzten Schauspieler auf dünnen Seilen tanzen, die in jedem Moment reißen können. Neben den bekannten Stars, die allesamt überzeugen, liefert Alexander Skarsgård eine tolle Vorstellung ab. Alles in allem ein unbändiger Film voll verstörender Bilder, nachvollziehbarer Gefühle und philosophischem Schwermut.
Ähnliche Filme:
Antichrist, Breaking the Waves
Information:
Dänemark, Schweden, Frankreich, Deutschland, Italien 2011
Dauer: 130 Minuten
Regie: Lars von Trier
Drehbuch: Lars von Trier
DoP: Manuel Alberto Claro
Darsteller: Kirsten Dunst, Charlotte Gainsbourg, Kiefer Sutherland, Charlotte Rampling, John Hurt, Alexander Skarsgård, Stellan Skarsgård, Brady Corbet, Udo Kier
Genre: Tragödie, Drama, Dogma
Im Kino: 06.10.2011
Im Web:
Melancholia in der IMDb
Bilder und Trailer zur Filmkritik von Melancholia auf der offiziellen Website
Copyright Bilder und Trailer: Concorde Filmverleih