Liebe zu einer Nazi: Läuterung in der filmischen Reflektion der unreflektierten Wirklichkeit.
Seit mehr als zehn Jahren ist der Zweite Weltkrieg vorbei, als der fünfzehnjährige Michael (David Kross) in einer deutschen Kleinstadt auf die viel ältere Hanna (Kate Winslet) trifft. Mit wenigen Worten und eindringlichen Bildern erschafft Regisseur Stephen Daldry eine leidenschaftliche Liebesbeziehung des ungleichen Paars, wobei die resolute und auch abweisende Hanna, die zu Beginn sowohl Führung als auch Verführung übernimmt, etwas undurchsichtig erscheint. Bald schon ist ihr Michael hoffnungslos verfallen, doch Hanna’s Dominanz versiegt je mehr, je öfter ihr Michael Bücher vorliest. Von Horace und Homer hin zu Tim und Struppi lässt sich die Straßenbahnkontrolleurin Hanna vom Schüler Michael erzählen, die Liebe wird kurzerhand hintangestellt. Das ist die Basis für eine Jahrzehnte übergreifende (Liebes-)Tragödie, die sich in der Zeit nicht nur nach vorn in das Jahr 1995, sondern auch nach hinten in die tiefsten Abgründe Nazideutschlands bewegt.
Hanna wird aus Michaels Leben, welches die Erzählperspektive vorgibt, ebenso plötzlich verschwinden, wie sie
aufgetaucht ist, doch sie wird nie wirklich weg sein. Rund um die Beziehung der Protagonisten zeichnet der Film die Welt nur wenig scharf, Michaels ganzes Leben gerät zur uneigenständigen Randerscheinung, die sich einzig um den Sommer im Jahre 1958 rankt. Noch als junger Mann im Jurastudium wird er Hanna erneut begegnen – denn der ehemaligen KZ Aufseherin wird ein Prozess gemacht. Als Student in den 60ern eher den vehementesten Nazigegnern nahe, zerreißt es Michael innerlich. Zudem kennt er Hanna’s Geheimnis, welches sie zwar nicht moralisch entschuldigt, wohl aber rechtlich, wie Juraprofessor Rohl (Bruno Ganz) eindringlich zu vermitteln versucht. Michael trifft eine Entscheidung, deren Konsequenz sein Leben von der Welt abschneidet, ebenso wie Hanna.
Der auf dem gleichnamigen Buch von Bernhard Schlink basierende Film, für den Winslet nicht zu Unrecht den Oscar 2009 erhielt, führte zu heftigen Kontroversen. Vor allem von jüdischer Seite wurde kritisiert, es ginge dem Film um eine Absolution für Naziverbrechen bzw. die Verfehlungen der Figur Hanna würden nicht mit den adäquaten Emotionen unterlegt. Tatsächlich weigert sich DER VORLESER, entgegen den Behauptunge einer die „Moralkeule“ fürchtenden deutschen Kritik, ein Mitfühlen für Hanna zu verbieten. Vielmehr dreht sich der ganze Film um die sehnsüchtigen Gefühle, welche die konsequent rücksichtslose Art von Hanna bei Michael hervorruft, denn bei aller Verfehlung wird sie weder als schlechter Mensch, noch als Lügnerin und schon gar nicht als Nazi gezeichnet. Stattdessen entspricht Hanna der Stärkeren in der Liebe, die Michael je mehr in ihren Bann zu ziehen scheint, je weniger rücksichtsvoll sie sich zeigt. Dabei geht es weniger um Masochismus, als um die Schönheit der Ignoranz, welche immer auch geradlinig, durchsetzungsstark und aufrecht ist. Hanna verkörpert mit diesen Eigenschaften eine Gespaltenheit, ähnlich der eines tragischen Helden.
Der Vorwurf, dem sich DER VORLESER im gesellschaftlichen Kontext in jedem Fall aussetzt, ist, dass hier Verbrechen von Nazi Gehilfen durch eine Kombination aus unreflektierter Dummheit und anständiger Aufrichtigkeit relativiert werden. Künstlerisch bleibt Daldry‘s Umsetzung einer der ergreifendsten Filme der letzten Jahre, was auch erklärt, warum so emotional debattiert wurde. Ralph Fiennes, der den erwachsenen Michael (nicht ohne Spielalterdivergenz) gibt, bringt mit wenigen Bewegungen eine ruhige Schwere in die zuvor von Kross jugendlich hölzern dargestellte Hauptfigur. So kann der Film mit einer versöhnlichen Trauer schließen, die stark an Läuterung erinnert. Da den tragischen Helden nach Aristoteles nun aber neben der aufgeladenen Schuld auch eine Unschuld auszeichnet, hätten sich viele wohl gewünscht, der Film wäre weniger tragisch. DER VORLESER vertritt hingegen eine andere Aussag zum Thema Holocaust, die er selbstreferenziell und selbstkritisch von einer Jüdin äußern lässt: „Das Konzentrationslager gibt einem nichts. Wer Katharsis sucht, muss sie in der der Literatur und der Kunst suchen.“
Ähnliche Filme:
Der englische Patient, Titanic
Information:
Engl. Titel: The Reader
USA, Deutschland 2008
Dauer: 122 Minuten
Regie: Stephen Daldry
Drehbuch: David Hare
Basierend auf dem Roman Der Vorleser (1995) von: Bernhard Schlink
DoP: Chris Menges, Roger Deakins
Musik: Nico Muhly
Darsteller: Kate Winslet, Ralph Fiennes, David Kross, Lena Olin, Bruno Ganz, Jeanette Hain, Susanne Lothar, Matthias Habich, Jürgen Tarrach, Hannah Herzsprung, Karoline Herfurth, Burghart Klaußner, Sylvester Groth, Alexandra Maria Lara
Genre: Drama, Tragödie, Liebesdrama, Historienfilm
Im Kino: 26.02.2009
Im Web:
Bilder und Trailer zur Filmkritik von Der Vorleser auf der offiziellen Website
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Copyright Bilder und Trailer: Senator Entertainment AG