Shame (2011)

Shame PosterWer nicht um sich ringt, trägt einen Ring.

Er lebt gar nicht in der Welt der Anderen, dieser Brandon (Michael Fassbender). Er ist ein korrekt gekleideter, sich bedeckender Mann aus der Agentur. Welche Agentur? Unbedeutend. Seine Arbeit, seine Wohnung, sein gesellschaftliches Leben: Unbedeutend. Vernunft: Nur nach außen hin. Brandon liebt es süß, er liebt es zügellos, er liebt es maßlos – und er leidet darunter. Ein Perverser und Kranker ist er für seine Mitmenschen, weil er durch und durch körperlich ist, desillusioniert und direkt. Also genau all das, was die erfolgreichen Menschen unserer Gesellschaft nicht sind. Brandon füllt jede Nische seines ohnehin kargen sozialen Lebens mit Sex. Ob Schränke oder Laptop, zu Hause oder in der U-Bahn, im zwielichtigen Eck oder am helllichten Tag: Alles ist voller Sex in Brandons Welt. Aber, ist Sex die Ursache oder die Konsequenz?

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Den langen Einstellungen entkommt Brandon (Michael Fassbender) ebensowenig wie der Leere seiner Freiheit.

Brandons Welt, das sind auch Sprünge in der Chronologie. Wie ein Verlorensein in der Zeit. Ein Rausch von Sinneseindrücken, der abwechselnd von leidender Distanziertheit und dann von ekstatischer Erniedrigung handelt. Regisseur McQueen duldet Filmmusik nur in diesen – Brandons – Momenten, die gerne mit Handkamera eingefangen werden. Die gesellschaftliche Komponente dieses Lebens bleibt blass und leer, zurückhaltend und unbewegt gefilmt, im Ruhepuls geschnitten und erfüllt von den nichtsagenden und peinlich verschämten Geräuschen der realen, unharmonischen Wirklichkeit. Und in dieser zeitlosen Nische der Unantastbarkeit, die sich Brandon in die schnelllebige und falsche Welt gemeißelt hat, könnte er wohl ewig überdauern, nie wirklich wach aber auch nie ganz gesunken. Aber, was macht Sissy (Carey Mulligan) hier?

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Sissy (Carey Mulligan): Emotionales Fiasko mit Hang zum Kuscheln gerät an kontrollierten Mechaniker.

SHAME macht die Scham zwar greifbar, hält sich aber nicht zurück im Ausstellen der Körper seiner Darsteller. Fassbender zeigt nicht nur jedes Detail überdeutlich, er uriniert sogar im On – seine Scham ist ganz andern Ursprungs. Plötzlich steht Sissy in seiner Dusche, nackt, unverhüllt, eine Ewigkeit wie es scheint, unerträglich für ihn. Sie diskutieren. In welchem Verhältnis die beiden zueinander stehen, wird erst spät klar. Sie ist es jedenfalls, die seine Umarmung sucht. Seine Menschlichkeit. Und damit treibt sie ihn in die Enge, vertreibt ihn aus seinem eigens und sorgfältig eingerichteten pornographischen Reich körperlicher Abhängigkeit. Verantwortung heißt für Brandon auf keinen angewiesen zu sein. Kann man denn tatsächlich Verantwortung für andere übernehmen? Und Abhängigkeit ist zugleich Freiheit. Die Freiheit nämlich sein zu dürfen, wie er ist. Sein zu dürfen, wofür er sich vor allen anderen schämen muss. Sogar vor sich selbst. Denn es ist die Freiheit der Tiere, der Maschinen, was er nicht erst begreift, als er sein auf Hochtouren arbeitendes Gesicht während des Aktes im Spiegel erblickt. Aber, gibt es eine andere Freiheit?

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Leidet: Kann er ein anderer sein, als er ist?

Als Brandon an seine Kollegin (Nicole Beharie) gerät, lotet er seine physischen Grenzen aus. Kann er sich Frauen weiterhin nur hingeben, wenn er sie wieder loswerden kann, oder gibt er auf und tauscht seine Freiheit gegen jene der funkelnden Gesellschaft? Was er auch versucht, Brandon ist ein Getriebener. Aus Leid und Trotz taucht er gewaltsam in Exzesse aus Lust und Schmerz ab, macht sich zum Opfer seiner selbst und versucht die Luft immer noch länger anzuhalten, immer noch weiter zu gehen, immer noch mehr zu riskieren. Sissys stets unbeantwortete Anrufe auf seiner Mailbox sind inzwischen schon Teil des Hintergrundrauschens geworden, das ihn stets ermahnt den Kopf unten zu halten, denn an der Oberfläche könnte es ernst werden. An der Oberfläche, das ist dort, wo die Menschen mit Eheringen regieren. Sie schweigen sich an und nennen es wortloses Verständnis. Sie sind rücksichtslos und sprechen von Verantwortung. Sie lieben sich, trennen sich und treiben sich in den emotionalen Wahnsinn. Und im Falle von Brandons Chef (James Badge Dale) haben sie Sex um der Bestätigung willen, nicht um sich hinzugeben oder zu verlieren. Wir sind nicht schlecht, wird Brandon von Sissy ermahnt, als sich die Lage zuspitzt und längst nicht mehr ausgemacht werden kann, wo denn das Gute noch liegen soll. Aber, gibt es das Gute denn, den richtigen Weg, den nicht kranken Menschen?

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Perfekte Anmache: Darf ich deine Muschi lecken?

Sex ist nicht das Problem. Es ist die Antwort. Das Problem ist uns Selbstverständnis. Aber wer, wie die meisten Kritiker, von vornherein davon ausgeht, auf der richtigen Seite zu stehen und Brandon zum Sexsüchtigen pathologisiert, der wähnt sich bei diesem Film nicht in Gefahr, bestaunt wohlkomponierte Bilder und legt die Chose zwischen angewidert und überraschend empathisch ad acta.

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Crash

Information:

Großbritannien 2011

Dauer: 100 Minuten

FSK: 16

Regie: Steve McQueen

Drehbuch: Steve McQueen, Abi Morgan

DoP: Sean Bobbitt

Musik: Harry Escott

Darsteller: Michael Fassbender, Carey Mulligan, James Badge Dale, Nicole Beharie, Hannah Ware, Amy Hargreaves, Elizabeth Masucci, Lucy Walters, Anna Rose Hopkins, Jake Richard Siciliano, Robert Montano, Alexandra Vino, Briana Marin, Jay Ferraro, Alex Manette

Genre: Drama, besonderer Film

Im Kino: 01.03.2012

Im Web:

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Shame in der IMDb

Bilder und Trailer zur Filmkritik von Shame auf der offiziellen Website

Copyright Bilder und Trailer: Prokino

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