Spiel und Schauspiel in TODO SOBRE MI MADRE

Hauptseminararbeit Filmwissenschaft FU Berlin 2006 Christopher Haug

Gliederung

Einleitung

1. Definition Spiel Schauspiel

2. Manuelas Schau-spiel – Leben in Madrid

2.1. Schauspielerin Manuela – Das gestellte Leben als Mutter

2.2. Alles ohne Hüllen?

3.Barcelona

3.1. Die hysterische Spirale

3.2. Paradies?

3.3. Agrados Welt

4.Mütter

4.1. Manuela

4.2. Rosa

4.3. Rosas Mutter

5.Manuelas Sprung

Schluss

Anhang: Volver

Literatur

Einleitung

Pedro Almodóvar hat es geschafft, ähnlich wie damals Fassbinder in Deutschland, mit seiner sehr eigenen und zu Beginn recht unkonventionellen Weise Filme zu gestalten, zum bejubeltsten Filmemacher Spaniens zu werden. Anders als bei Fassbinder jedoch, präsentieren sich Almodóvar Filme oftmals mit einer humorvollen Leichtigkeit, welche Gesellschaftskritik und moralischen Tiefgang gerne vergessen lassen. Dass sich hernach oft das Problem stellt, seine Filme nachzuerzählen, liegt zum Teil wohl auch an dieser exaltierten Inszenierungsweise, welche einem das Gefühl gibt einen guten Film gesehen zu haben, aber ohne die klare Vorstellung welchen. Auch die Vielheit seiner Erzählstränge und Figurenkonstellationen tragen zu diesem Phänomen bei, doch auch wenn narrativ der Überblick verloren geht, scheint der emotionale Pfad sehr befestigt. Dieser ist gesäumt mit einer Fülle von Übertreibungen, Kitsch, Exaltiertheit, Überschwang, Rausch und Verrücktheiten, welche das emotionale Moment farbenfroh zu visualisieren scheinen. Genau diese Art der Herangehensweise, das Überdrehte, Exaltierte, welches vielen seiner Charaktere innewohnt, steht meines Erachtens in klarer Opposition zu einer anderen Art von menschlichem Selbstverständnis, welches man eher als ernst bezeichnen könnte. Almodóvars Filme beinhalten durchaus auch ernste Charaktere, aber selbst diese schaffen es nicht sich gegen seinen Inszenierungsstil zu behaupten und verbleiben auf artifizieller Figurenebene. Durch diesen Kniff, das verspielte Betrachten des Ernstes nämlich, mit der damit einhergehenden Subversion dessen, gelingt es den Filmen Almodóvars, beim Kampf zwischen Ernst und Ironie, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Einheit und Vielheit immer letzteres zum Sieger zu küren. Allerdings sind diese Siege oft auch mit Verlusten verbunden und am Kampf um das eigene Ich orientiert.

Folgende Arbeit stellt die These auf, dass die Figuren in Almodóvars TODO SOBRE MI MADRE geteilt werden können, einmal in die Gruppe der Figuren die Schauspielen und zum anderen in jene die Spielen, sich also immer schon auf performativem Grund befinden. Diese Trennung, welche eigentlich genauso Zusammenführung ist1, oder vielmehr das Herausgreifen des dominierendsten Inszenierungsmerkmals der Filme Almodóvars, des Spiels, und dessen Verwendung als Instrument zur Analyse der filminternen Figuren, als Meßlatte ihrer „Integrität“ sozusagen, soll die sich überschlagenden Handlungen in gemäßigte Bahnen bringen so wie Konflikte und Sympathien erklären.

Definition Spiel und Schauspiel

Wenn diese Arbeit von spielen spricht, spricht sie von einer Art der Konfliktbewältigung oder eben des Lebens, welche vor allem dadurch gekennzeichnet ist, dass die eigene Person, Persönlichkeit, der Charakter oder das Ich der handelnden Person, nicht im Sinne einer Repräsentation auf eindeutige Inhalte oder Signifikate verweist, sondern eine offene und relationale Entität darstellt, welche eher als Vielheit, in Abhängigkeit der durch sie und mit ihr verbundenen anderen Verweise und Relationen, betrachtet werden kann. Ähnlich einem hypertextischen Knoten, der über viele Wege erreicht werden kann und dementsprechend viele Bedeutungen erlangt, ist die spielende Person also jene, die ihr Selbstverständnis auf der Basis eben jener Verknotungen und Relationen erstellt/gründet und nicht etwa sich selbst als eine Konstante oder eine fixen Wert inmitten einer sich ändernden Umwelt begreift.

Jean Luc Godard lässt in seinem Film MASCULIN, FEMININ – DIE KINDER VON MARX UND COCA COLA eine Stimme aus dem Off zu der Erkenntnis kommen, dass nicht wir es sind, die unsere soziale Umwelt bestimmen, sondern dass diese eben uns bestimmt: „Gebt mir einen Fernseher, gebt mir ein Auto, aber bitte, bitte, nehmt mir die Freiheit.“ Würde man diese Überspitzung nach beiden Seiten hin öffnen, also die Wirkung und Beeinflussung sowohl vom Individuum zur Umwelt als auch umgekehrt annehmen, so ergäbe das eine gutes Beispiel für die Veranschaulichung der spielenden Person, wie sie diese Hausarbeit versucht zu beschreiben. Das Spiel im Bezug auf die Identität kommt dem, was Judith Butler im Bezug auf Geschlechteridentität performativ nennt, also weitestgehend gleich.

Schauspiel hingegen, verweise in dieser Hausarbeit auf eine Art der Aufführung, welche in Abgrenzung zum Spiel, nicht die Identität des schauspielenden Subjekts in Frage stellt. Schauspielen sei also eine, in Relation zum Subjekt, bewusste Falsch-Inszenierung des tatsächlichen Wertes des Subjekts. Dies erfordert nun die Annahme, es gäbe einen bestimmbaren Wert des Subjekts, welcher im Schauspiel „gefälscht“ dargestellt wird.

Wenn Diderots paradoxer Schauspieler für sich selbst emotionale Kälte oder kühlen Kopf bewahren muss, um dem Effekt des Gespielten die emotionale Wärme zu verleihen, vermutet man intuitiv Betrug oder Fälschung. Diese Vermutung basiert auf der Annahme, dass es einen, zum Zeitpunkt des Schauspiels, vorherrschenden echten oder tatsächlichen emotionalen Zustand des Schauspielers gibt, welcher von dem der gespielten Rolle abweicht. Ein solcher Zustand müsste folglich gekennzeichnet sein durch eine Invarianz gegenüber sämtlichen, oder zumindest allen das Schauspiel betreffenden, Faktoren. Wie oben beschrieben, lässt sich im Spiel ein solcher Zustand nicht denken.

Nun stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich ist klar zu unterscheiden, ob gespielt wird oder ob „nur“ Schauspiel vorherrscht. Das ist die schwierige Frage von Innen und Außen, von Repräsentation und Wahrhaftigkeit. Auch eine Person die spielt, kann gleichzeitig schauspielern, ja dem Spiel selbst wohnt schon das Schauspiel inne. Diese Arbeit will davon ausgehen, dass Menschen prinzipiell immer spielen, ob sie wollen oder nicht. Die Frage stellt sich nun also weniger nach der tatsächlichen Natur des menschlichen Seins, als vielmehr nach seinem Selbstverständnis und den sich daraus ergebenden Konsequenzen.

Auf der Seite des Schauspiels wären Begriffe wie Lügen, Fälschen, in die Irre leiten, Inszenieren und ähnliche anzusiedeln, welche alle darauf hindeuten, dass zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Motivation und Aktion ein retardierendes Moment besteht, welches eigentlich gerne dem freien Willen zugeschrieben wird und den Menschen aus einem bloßen Funktionieren befreit2. Diese Sichtweise jedoch basiert, wie bereits erwähnt, auf der Annahme, dass es etwas wie Die Ursache oder den tatsächlichen Zustand als klar definierte Einheit wirklich gäbe.

Zum Spiel gehören eher Begriffe wie Probieren, Experimentieren, (Ver-) Suchen usw., die alle gemein haben, dass weder Ursache noch Wirkung klar definiert werden können. Sie sind in gewisser Weise absichtslos.

Jede Äußerung/Handlung eines Menschen, ob gestisch, mimisch oder verbal, kann als Kommunikation betrachtet werden. Da es dem Menschen (vermutlich) nicht möglich ist, den anderen zu „verstehen3“ ohne eine Art der Kommunikation, welche immer eine Transkribierung/Übersetzung darstellt, und somit ein Medium benötigt, wird immer eine Diskrepanz bestehen zwischen dem was wir sind/fühlen/denken und dem, was wir in der Lage sind hiervon an unsere Umwelt weiterzuleiten. So gesehen ist es im Hinblick auf das Schauspiel ganz undenkbar überhaupt anzunehmen, es gäbe Kommunikation ohne eben diese Übertragung welche an sich immer schon Schauspiel sein muss, ist sie doch der Definition nach das Verschiedene, die Differenz zwischen dem Ich-Verständnis und dem kommunizierten Ich-Verständnis. Ohne diese erste Differenz würde Kommunikation bereits scheitern, denn anders kann Person A Person B nicht „verstehen“, es sei denn Person B würde sich in Person A wandeln, was biologisch4 und physikalisch5 gänzlich unmöglich ist.

Das Schauspiel als die Differenz zwischen dem Ich-Verständnis und dem kommunizierten Ich-Verständnis ist also immer schon gegeben. Nun könnte aber absichtsvoll etwas anderes kommuniziert werden, was dem von Diderot beschrieben Schauspiel schon näher kommt und ganz banal auch als Lüge bezeichnet werden kann, der Einfachheit halber. Und genau hier fängt die Unterscheidung zwischen Spiel und Schauspiel an. Das Spiel nämlich kann nicht davon ausgehen, dass Verständnis als solches überhaupt möglich ist, zumal das Ich-Verständnis selbst schon keinen festen Wert hat, auch vorkommunikativ nicht. Deshalb bewegt es sich außerhalb des Wahrheitsdiskurses und Lüge ist somit gar nicht möglich. Andererseits ist es aber sehr wohl auch auf das Schauspiel angewiesen, als Transkribierung des Ich-Verständnisses in ein kommunikatives Medium zum Zwecke, ja zu welchem Zwecke? Wohl eher zum Zwecke des Spiels als zum Zwecke der Verständigung. Des Weiteren besteht auch die Möglichkeit der Lüge, allerdings im Binnensystem der Kommunikation und nicht als Lüge das eigene Sein betreffend.

Richard Senett legte in seinem Buch Verfall und Ende des öffentlichen Lebens dar, wie das öffentliche Spiel (Kommunikation) in der Gesellschaft mit der Trennung von Öffentlich und Privat im Zuge der Säkularisierung abgeschafft wurde. Der Mensch wird mit der Pflicht erdrückt Wahrheit zu repräsentieren, die Wahrheit seiner individuellen Persönlichkeit; der Schein wird gewissermaßen zum Sein. Diese Gefahr scheint nun auch das spielende Subjekt zu bedrohen welches nicht lügen kann. Allerdings sei diese Sichtweise in zweierlei Hinsicht relativiert. Zum einen wird die zwingende Sein/Schein Dualität gebrochen, wie bereits erwähnt, im Binnensystem der Kommunikation, zum anderen liegt der Anschein der Gefährdung einer solchen Theorie eben wieder in der Annahme, dass es etwas festes oder Wahres gäbe, welches jedes Subjekt nun auf Gedeih und Verderb äußern müsse. Tatsächlich aber gibt es das nicht, weswegen das nicht Lügen können keinesfalls verwechselt werden darf mit dem die Wahrheit sagen müssen. Die Wahrheit (des Subjekts) als solche gibt es nicht.

Es bleibt festzuhalten, dass das Schauspiel in jeder Kommunikation schon gegeben ist, die Frage stellt sich nur, welchem Zwecke die Kommunikation dient, oder ob sie überhaupt einem Zweck dient. Hier kommt wieder das Selbstverständnis eines jeden Individuums ins Spiel. Meine Annahme und somit die Vorgabe für diese Arbeit ist ja, dass alle Menschen spielen, zwangsläufig. Es besteht aber durchaus die Möglichkeit, dass im Selbstverständnis der Subjekte dieses Spiel nicht anerkannt wird. Ein solches Subjekt bleibt gerne dem Wahrheitsdiskurs verhaftet, vor allem sich selbst betreffend, weswegen ich es, so paradox es klingen mag, unehrlich nennen will6. Unehrlich, weil es, vielleicht der Bequemlichkeit halber, in klaren Kategorien verhaftet bleibt, welche letztendlich immer wieder auf Gut und Böse hinauslaufen müssen, ohne die eigene „Natur“ anzuerkennen, welche einen derartigen Dualismus und eine derartige Reduzierung auf diametrale Einheiten verbietet bzw. sie voraussetzt, aber nicht als Maßstab für Werte sondern als Seinsbedingung.7

Mit diesen Überlegungen will ich mir nun Pedro Almodóvars TODO SOBRE MI MADRE ansehen, denn ich vermute als eines der Hauptthemen in diesem Film genau solche Gedanken über Spiel und Schauspiel, über das Selbstverständnis der Menschen und über ihre Ehrlichkeit.

Manuelas Schau-spiel – Leben in Madrid

Früher spielte Manuela in einem Laientheater, mit Lola. Sie die Stella und er den Kowalski aus Tennesse Williams A Streetcar Named Desire. Doch ihrem Sohn erzählte sie lange nichts davon und als es soweit ist, fehlt auf dem Photo die Hälfte mit Lola. Sie hat das Schauspielen aufgegeben, jetzt ist sie Krankenschwester und Mutter, zwei Aufgaben die bei genauer Betrachtung nicht unähnlich erscheinen. Bei ihrer Flucht aus Barcelona nach Madrid blieb die Vergangenheit zurück.

Nach dem Tod ihres Sohnes, der merkwürdiger Weise mit einem Theaterbesuch von A Streetcar Named Desire zusammenfällt, also mit dem Beginn ihrer Bekanntschaft mit Lola und somit auch mit dem Beginn ihres Sohnes, kehrt Manuela in vielerlei Weise zurück. Sie kehrt zurück nach Barcelona, sie kehrt zurück in die Rolle der Stella, sie kehrt zurück zu Lola und sie kehrt zurück von ihrer Rolle als Mutter.

Da explizite Verweise zum Thema Schauspiel zu finden sind, bietet es sich an Manuelas Analyse zum Thema Spiel/Schauspiel hier anzusetzen.

1. Schauspielerin Manuela – das gestellte Leben als Mutter

Nebst dem Hinweis gleich zu Beginn, dass Manuela früher auf der Bühne spielte, sehen wir sie gleich in einer der ersten Szenen in einem gestellten Gespräch mit Ärzten, in dem es um Organspende geht. Unter der Leitung einer Psychologin, eine Freundin Manuelas, versuchen Ärzte sich auf die schwierige Situation vorzubereiten, den Angehörigen eines Verstorbenen gleichzeitig dessen Tod beizubringen und ihnen die Erlaubnis abzugewinnen, die Organe für Transplantationen freizustellen. In diesem Gespräch spielt Manuela die Frau eines soeben gestorbenen Mannes, die nun allein mit ihrem Sohn zurückbleibt. Als die Ärzte ohne große Umschweife auf die Transplantation zu sprechen kommen, missversteht Manuela die Situation und hofft auf eine Organspende für ihren Mann. Hierbei zeigt Almodóvar das Gesicht Manuelas in einer Großaufnahme, abgefilmt von einem Fernseher, welchen die Teilnehmer des Seminars betrachten. Die Psychologin schließt die Sequenz und beginnt in gewisser Weise den Film mit den Worten: „Und jetzt wollen wir die verschiedenen Aspekte der gestellten Situation analysieren.“

Die gestellte Situation wird sehr schnell zur Wirklichen und diese zu analysieren überlässt der Film Manuela, ihre Freundin die Psychologin kann ihr nun nicht mehr weiterhelfen. Als die beiden im Krankenhausgang die Diagnose vom Tod Estebans erhalten und Manuela zu schluchzen beginnt, findet die Psychologin keine helfenden Worte und sie macht einen fast schon deplazierten Eindruck, mit ihrem unveränderlichen Gesicht, welches immer nur zu sagen scheint, es wird schon alles gut, jedoch ohne Anstalten zu machen dies in die Tat umzusetzen – was bleibt ist nur das Versprechen. Später, als sie erfährt, dass Manuela dem Herz ihres Sohnes nachgereist ist und nun Madrid verlassen will, wirft ihr die Psychologin Unvernunft vor und rät ihr sich auszuruhen, doch Manuela lehnt ab. In Anbetracht der Tatsache, dass Almodóvar gerne und oft Psycholog(inn)en in seinen Filmen platziert (LA FLOR DE MI SECRETO, LABERINTO DE PASIONES, KIKA oder das Thema Psychiatrie in ATAME, KIKA, MUJERES AL BORDE DE UN ATAQUE DE NERVIOS) erscheint diese Nutzlosigkeit und das Verschieben der Daseinsberechtigung der Psychologie in die „gestellte“ Situation nicht ganz unbedeutend. Die Psychologin war jedenfalls Teil von Manuelas Leben in Madrid als Krankenschwester und Mutter und endet mit ihrem Einfluss auf Manuela mit dem Tod Estebans.

Ein Versuch wäre nun, das Leben Manuelas in Madrid an sich als die gestellte Situation zu betrachten. Hierfür sprechen einige Punkte.

Manuela wird ständig beobachtet, von ihrem Sohn. Er betrachtet im Theater mehr sie als die Vorstellung, sie erscheint in seinem Blick vor dem gigantischen Poster der Schauspielerin Huma Rojo, ebenfalls in rot, er will ihre Bilder sehen und durchsucht deswegen ihre Kommode, er schreibt über sie (Der Titel seiner Notizen als der Titel des Films: Alles über meine Mutter), lässt sich von ihr Vorlesen, will sie bei den Kursen zur Organspende beobachten, kurz: Manuela ist das Thema von Esteban8. Als die beiden vor dem Fernseher, ALL ABOUT EVE schauend, im Gespräch etwas in die Gossensprache abgleiten, ist Manuela entsetzt über die Ausdrucksweise ihres Sohnes und will wissen, wo er so reden gelernt habe – wie Mütter das eben gerne Fragen – zumal sie selbst hierfür nicht verantwortlich gemacht werden will, denn Mütter, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht, sind Vorbilder für Kinder und geben ihnen ein Beispiel, stehen also unter ständiger Beobachtung. Und so inszeniert sich Manuela für ihren Sohn, peinlich darauf bedacht ihre Vergangenheit unter Verschluss zu halten, jedoch mit dem Effekt, ihren Sohn so nur noch wissbegieriger zu machen. So erscheint die Bemerkung Estebans, er würde ihr Rollen schreiben, wenn sie Schauspielerin wäre, weniger beiläufig als auf den ersten Blick, denn in gewisser Weise tut er dies bereits durch seine schiere Existenz als ihr Sohn. Er schreibt ihr die Rolle der Mutter und sie ihm seinen Horizont vor, in einer gegenseitigen Beeinflussung. Ihre Zeit in Barcelona, ihren transvestiten Mann und all ihre Vergangenheit in der sie „viel herumgefickt“ hat, lässt sie dabei außen vor. Was sie dabei außen vor lässt ist folglich, wer sie vor Esteban war, die Manuela die keine Mutter war. Stattdessen ist sie jetzt die Mutter und die Schauspielerin, die vorgibt nicht zu spielen und authentisch zu sein. Gerade hier zieht Almodóvar eine (seiner typischen) weitere Parallele in Form des Filmzitats aus ALL ABOUT EVE. Bette Davis als alternder Bühnenstar Margo sitzt in der Garderobe und lässt sich herablassend über ihre Fans aus (Almodóvar montiert die herablassenden Worte zu dem Bild ihrer draußen wartenden, lächelnden Bewunderin, und suggeriert so, anders als in ALL ABOUT EVE, als höre die Wartende die Beschimpfungen, jedoch ohne sich pikiert zu fühlen), nur um im nächsten Moment ihren größten Fan, die wartende Frau vor ihrer Garderobentür, Eve Harrington, mit dem herzlichsten Lächeln überhaupt zu empfangen. Kurz vorher legte Almodóvar Manuela die exakten Worte von Bette Davis in den Mund: „Ich hab nun mal ein loses Maul.“ Diese Worte dienen Manuela dafür zu relativieren, dass sie Begann über den Strich zu reden. Was ihr da herausrutscht, drückt letztendlich doch genau aus, dass alles nicht so ernst zu nehmen sei, dass alles nur Spiel ist (nicht Schauspiel), ebenso wie die Beschimpfungen von Davis über ihren Fan, oder der Vorschlag Manuelas, dass ihr größter Fan, Ihr Sohn, für sie auf den Strich gehen solle um sie einmal zu versorgen. Dieser Wechsel ins Spiel geht jedoch bei Esteban, der immer ernst bleibt, nach hinten los.

Die Parallele kann nun bezüglich verschiedener Punkte gezogen werden. Zum einen, Margo alias Betty Davis als Schauspielerin, welche sich der gleichen Worte bedient wie Manuela, die Mutterschauspielerin. Zum anderen verhalten sich beide unkorrekt gegenüber ihren Fans, denn beide deuten an, dass es ihre Fans nicht ernst meinen, dass es ihnen eigentlich nicht um ihre Arbeit ginge, also der Verehrerin von Margo/Davis ginge es nicht um die Aufführungen sondern nur (oder besser mehr) um die Berühmtheit (also auch um die Person, nicht nur die Schauspielerin) und auf der anderen Seite ginge es Esteban nicht um die Mutter(rolle) sondern um die Frau, die seine Mutter ist (war). Dies verdeutlicht die heimliche Frage in Manuelas Äußerung, ob Esteban eines Tages für sie sorgen wird, wie sie als Mutter für ihn sorgt, oder ob sie für ihn dann nur mehr eine alte Frau sein wird (Ein Thema, mit welchem sich Almodóvar in VOLVER beschäftigt). Diese Frage wird allerdings nie beantwortet, da Esteban, wie viele männliche Rollen Almodóvars den Film nicht überlebt, jedoch scheint die Angst Manuelas, in Anbetracht des von Almodóvar gezeichneten Bildes des Mannes in seinem filmischen Schaffen, durchaus berechtigt. Der interessanteste Punkt ist aber der Umstand, dass Almodóvar ALL ABOUT EVE ummontierte, derart, dass er die Verehrerin die Vorwürfe des Stars mit einem bezaubernden Lächeln quittiert lässt, als wollte diese Eve Harrington sagen, na und, ist doch normal so, oder? Eve Herrington scheint gar nicht anders zu können und ist sich anders als in dem Bild das Mankiewicz in ALL ABOUT EVE von ihr zeichnet, ihrer Bosheit eigentlich gar nicht bewusst – wie ein Kind, ein Kind einer Mutter.

Dieses eindeutige Zitat, welches die Situation auf der Mattscheibe so schön gespiegelt findet in Manuela und ihrem Sohn, lassen es meines Erachtens wenig konstruiert erscheinen, Manuela in ihrer Rolle als Mutter dem Schauspiel nahe zu stellen, und ihren Sohn dementsprechend als ihren „bösen“ Fan zu sehen. Esteban scheint mehr von seiner Mutter zu wollen als ein normaler Fan, jedoch fördert seine systematische Herangehensweise die Mutterrolle bei Manuela umso mehr. Dabei geht das Schauspiel bei Manuela mit der Mutterrolle Hand in Hand, es finden sich jedoch ebenso Spielanteile, wie eben wenn sie ein loses Maul hat und sich gleichzeitig ernsthaft um die Zukunft sorgt. Betty Davis steht dem gleichen Zwiespalt gegenüber, wenn sie fast gleichzeitig über ihre Fans schimpft und sie dann freudig begrüßt, spielt und schau-spielt, einmal Frau und einmal Schauspielerin ist, vielleicht kann man sogar sagen einmal privat und einmal öffentlich, Eve Harrington beschimpft und sie dennoch mag.

Manuela nun in ihrem Leben als Mutter und Krankenschwester (beide sorgen), schweigt lieber über ihre Vergangenheit als sich ins Unglück zu stürzen9. Ob das die richtige Entscheidung war? Kurz vor dem Tod ihres Sohnes verspricht sie diesem alles über seinen Vater zu erzählen, nur dazu kam es nicht mehr, weil ihr Sohn/Fan den Tod findet während er versucht von einer großen Schauspielerin ein Autogramm zu ergattern. Wieder zeigt sich wie spiegelbildlich diese Szene aufgebaut ist. Auf der einen Seite der Fan, interessiert an einem Wort, an Buchstaben auf Papier, einem Namen der eine Rolle vorgibt (im spanische ist Rolle papel = Papier). Er ist ja gar als Schreiber definiert, als Verwalter von Worten, ähnlich dem Sohn in WOMIT HABE ICH DAS VERDIENT, der von seinem Vater die Gabe des Handschriftenfälschens mit auf den Weg bekommt. Wieder zeigt sich die Technik oder das Gestell als Wesen der Technik, wie Heidegger es nennen würde, das den Männern bei Almodóvar als hohler Sinngeber dient. Durchstrukturiert und penibel lebt Esteban in einer Welt, die jede Sekunde in teilbare Worte übersetzt wird, seine Schränke in seinem Zimmer sind gar mit Zahlen durchnummeriert. Der Vater von Rosa, ein an Alzheimer leidender alter Mann, stellt die Spitze dieser Entwicklung dar. Für ihn sind Personen nur noch Alters-, Großen- und Gewichtsangaben. Heidegger sieht die Gefahr in der Technik genau hierin, nämlich dass diese nicht bloßes Mittel, sondern Blick auf die Welt sei und diese dementsprechend verändere10. Durch die Technik ginge das in der Welt sein verloren, wird ver-stellt durch einen Blick der omnipotent die Welt zerteile, neu anordne und das Hervorbringen nur mehr als Entbergen ins Bestellte (Durchökonomisierte) begreife. Exupery würde sagen, man sieht nur mit dem Herzen gut und Almodóvar schließt sich dem vielleicht an. So findet Esteban den Tod, beim Versuch die Welt zu zerteilen, beim Versuch ein Autogramm zu ergattern, beim Versuch seine Mutter zu beschreiben – ja, genau in dem Moment als seine Mutter sich nach langen Jahren bereit erklärt ihm von seinem Vater zu erzählen, also von ihrem Leben vor dem Mutter sein. Dass dies (in der Mutter-Sohn Beziehung) nicht möglich ist zeigt der nächste Absatz. Außerdem hätte es fatale Folgen gehabt, bei der logomanischen, ernsten Herangehensweise von Esteban. Genau deswegen bleibt Esteban hier nichts anderes übrig als zu sterben, wenn der Film das Versprechen des Titels einhalten und alles über meine Mutter erzählen will. So ist es auch kein Zufall, dass Esteban genau dann stirbt, als er mit seiner Mutter A STREETCAR NAMED DESIRE besuchte. Dies lässt sich dadurch erklären, dass bereits der Besuch dieses Stückes, der Hinweis auf die frühere Schauspielerei Manuelas und das alte Photo einen Schritt in die Vergangenheit Manuelas sind, bevor sie Mutter war, und zwar genau an die Schwelle, an den Moment, als sie Lola kennen lernte11. So findet der Sohn auf der Jagd nach dem Autogramm von Huma Rojo (die sich wegen Bette Davis so nennt, Bette Davis alias Margo in ALL ABOUT EVE) und auf der Suche nach seinem Vater/seiner Mutter bevor sie Mutter war, sein Ende, nicht zuletzt, weil er den Fehler begeht, Worte zu überschätzen, nicht zuletzt weil Manuela den Fehler begeht, Worte zu unterschätzen.

Manuelas Leben in Madrid war, nüchtern betrachtet, ein Mutterschauspiel, gespiegelt und enttarnt durch zahlreiche Verweise aus Film und Theater, basierend auf dem Verschweigen (Lügen) der Vergangenheit und der laxen Auslegung des Wortes, was in krasser Opposition zur Auffassung ihres Sohnes stand, dem das Schriftstellertum als Knute gar animierte12.

Das Kapitel Mutter/Krankenschwester/ Schweigen/Psychologie/Madrid/Schauspiel wird weitestgehend geschlossen.

2. Alles ohne Hüllen?

Was ist die beste Möglichkeit einen Film zu machen, der den Titel alles über meine Mutter trägt? Einen möglichst authentischen Film? Da der Titel die Perspektive bereits vorgibt, die des Kindes, steht von vornherein fest, dass viele Aspekte dieser Person die nun Mutter ist, nicht beleuchtet werden können. In seinem 1992 erschienen Erfolgsroman MEIN HERZ SO WEISS beschreibt der zeitgenössische spanische Autor Javier Marias ebenfalls das Problem des Erfahrungsaustausches zwischen Eltern und Kindern. So kann der Vater des Protagonisten seinem Sohn nicht erzählen, dass er dadurch, dass er den Mund nicht halten konnte seine erste Frau in den Selbstmord trieb. Überhaupt ist eines seiner großen Themen das Wort, das gesagte und das geschriebene, ebenso wie das nicht gesagte. Seine Romanfiguren, und er schließt seine Erzähler hier nicht aus (!), bereuen oft die gesagten Worte und seinem Roman MORGEN IN DER SCHLACHT DENK AN MICH sind gar die Worte zu entnehmen: Es sind die Worte die uns ins Unglück stürzen, nicht die Taten. Ähnliches hatte wohl auch Helmut Kohl erkannt, wodurch er es vermeiden konnte das Gefängnis in seinen Lebenslauf aufzunehmen und ähnliche Erkenntnis bestimmt auch das Leben von Manuela in Madrid. Genau deswegen ist die einzige Möglichkeit den authentischen Film mit dem Titel Alles über meine Mutter zu drehen, wenn eine der beiden Personen aufhört zu existieren, in beiden Fällen jedoch die Mutter aufhört zu existieren. Dass es Almodóvar hierbei nicht in den Sinn kommt die Mutter sterben zu lassen, beweist seine Genialität und seine Liebe für Frauen ebenso, wie seine Abneigung gegenüber der spanischen Übersetzung von ALL ABOUT EVE als Eva Hüllenlos (= deutsche Synchronisation, eigentlich Eva nackt/EVA AL DESNUDO). Es ist nicht schwer vorzustellen, dass ein Film, in welchem das Leben der toten Mutter ausgegraben wird, wohl eher das Hüllenlose betonen würde. TODO SOBRE MI MADRE hingegen holt die Manuela zurück, die damals zur Mutter wurde und überhaupt nur so ist es möglich, durch den Tod Estebans, einen Film zu erzählen, der Alles über die Mutter heißen darf, denn das Entscheidende ist, meiner Meinung nach, nicht das Mutter sein, sondern das Mutter werden oder werden wollen, die Entscheidung. Und diese Entscheidung wird von einer Person getroffen, die aufhört zu existieren wenn sie Mutter ist, weswegen es so schwer ist dieses Thema zu fassen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum es Esteban noch nicht einmal gelingt den Titel mit Tinte zu schreiben, vielleicht ist das der Grund, weswegen Almodóvar in seiner Widmung am Ende des Films nicht alle Mütter bedenkt, sondern all jene, die Mütter werden wollen (a todos que quieren ser madre). Die hüllenlose Mutter steht letzten Endes nackt da. Nackt verweist entweder auf Nichts, das Fehlende oder nicht mehr Existente, oder aber auf das Enthüllte, welches nun scheinbar unverfälscht zu Tage tritt, der entblätterte Kern sozusagen. Dieser vermeintlich irreduzierbaren Einheit stellt Almodóvar die Vielheit des Alles gegenüber.

Nun, nach dem Tod Estebans, ist die gestellte Situation aufgeflogen, wenngleich noch nicht ganz analysiert. Doch alles was nun geschieht, nimmt Bezug auf das bis dato ausgeübte Mutterschauspiel von Manuela, indem es die Person zeigt, die zur Mutter wurde, indem gezeigt wird, was nicht mit Worten oder teilbaren Größen gefasst werden kann: Alles.

Barcelona

1. Die hysterische Spirale

Das Kapitel Barcelona beginnt für Manuela eigentlich schon mit dem Tod ihres Sohnes. Hier zeigt sich der Kontrast im Schauspiel am deutlichsten in den beiden Situationen, in denen Manuela im Organspendengespräch auftritt. In der gestellten Situation sehen wir Manuela auf der Mattscheibe schau-spielen. Sie ist naiv, oder unehrlich13, wenn sie vorgibt die Frage der Ärzte nicht richtig zu verstehen und drückt damit den Wunsch aus, die verstorbene Person als solche nicht zu akzeptieren, den Wunsch diese Person am Leben zu behalten. Als es aber dann wirklich soweit ist, findet sich keine Spur mehr von Realitätsverlust. Manuela findet keine Worte mehr, welche die Welt wieder in eine geregelte Bahn leiten könnten, was bleibt ist das Schluchzen. So gerne dieses auch einem hysterischen Repertoire zugeschrieben wird, basierend wohl noch immer auf den Studie Charcots, der versuchte die hysterischen Äußerungen in einen Ausdruckskatalog gleich der Semiologie der Sprache zu pressen, so sehr ist es doch auch nicht Schauspiel, welches hier seinen Ausdruck findet, sondern Spiel. In der Weiterentwicklung der Charcot’schen Studien entwickelte Freud zusammen mit Breuer die Psychoanalyse. Wie auch immer man zu dieser Therapie, Wissenschaft oder Performance stehen mag, fest steht, dass Freud mit der Psychoanalyse zu Beginn ausschließlich hysterische Frauen behandelte, die Ursachen der Hysterie mehr und mehr in der Sexualität verankerte und letztendlich ein Instrumentarium oder eine Kommunikationsplattform schuf, in welcher vor allem die in der vorherrschenden Zeit und Gesellschaft unterdrückte Sexualität der Frau „befreit“ werden konnte. Meine Argumentation ist14, dass diese wie auch immer geartete Befreiung, genauso wenig wie die Semiologisierungsversuche Charcots, auf eine eindeutige oder letztgültige Wahrheit stoßen, sondern, dass es den hysterischen Patientinnen vielmehr ermöglicht wurde zu Spielen, wobei die Psychoanalyse der Zuhörer oder das Publikum für dieses Spiel darstellte, das offene Ohr sozusagen. Dies fördert freilich auch das Schauspiel oder das Unehrliche. Anders als beim Schauspiel kann derart aber eine Position der Betrachtung eingenommen werden, die nicht von einer fixen Identität im Kern der spielenden Person ausgehen muss. Da Freud diesen Weg aber leider nicht einschlug und letztendlich alles auf den Ödipuskomplex reduzierte, womit er die Ursache der „Krankheit“ zu definieren versuchte, geriet und gerät seine Theorie bis heute oftmals in Erklärungsnot und schwere Kritik. Ohne das hysterische Spiel jedoch an feste Ursachen binden, stellt es die Möglichkeit einer Performance dar, welche die performative Identität zum Vorschein bringt.

Wenn nun Manuela im gestellten Gespräch schau-spielt und naiv/unehrlich ist, so wird diese Art der Konfliktbewältigung in der realen Situation abgelöst von einem wortlosen Ausdruck des Schmerzes, ähnlich einem hysterischen Akt, der nun ehrlich und direkt auf die Nicht-Klassifizierbarkeit und Uneinordnugsbarkeit ihres Schmerzes hinweist.

Scheinbar habe Almodóvar zu diesem Film gesagt15, er sei entstanden, weil er in dem Film MEIN BLÜHENDES GEHEIMNIS bemerkt habe, wie viel besser sich Laiendarstellerinnen, im Vergleich zu ihren männlichen Pendants, in einer Situation, wie der des gestellten Organspendengesprächs, in die Gefühle der Personen hineinversetzen können.

Manuela stellt nun eine Laie dar, wenn sie die Situation im Krankenhaus nachstellt und ihr Hineinversetzen führt soweit, dass sie nicht nur Lola sehr gut zu beschreiben scheint („Mein Mann dachte zu Lebzeiten nur ans Leben.“) sondern auch zum nicht wahrhaben Wollen seines Todes. Ihr wohnt also diese schauspielerische Fähigkeit inne, sich in Situationen hineinzuversetzen, die nicht wahr oder nicht ihre sind. So kann sie auch einerseits Lola beschreiben und andererseits seinen vorgestellten Tod nicht wahrhaben wollen, obwohl ihr im wirklichen Leben sein Tod nicht nahe zu gehen scheint. In diesem Gespräch jedoch, durch ihre vorgegebene Naivität (und der Zuschauer weiß, dies ist geschau-spielt, um die gestellte Situation schwieriger für die Ärzte zu machen), erreicht sie ein Maximum an Tragik, an Schrecken und Schaudern. Die Fähigkeit des Schauspiels oder des Hineinversetzens ist also auch Fähigkeit zur Lüge, zumindest ist sie als solche in diesem Gespräch zu sehen, wenn Manuela mit ihrer Naivität den dramaturgischen Bogen des Schmerzes bis zum zerreißen spannt. Almodóvar verbannt dieses Bild auf die Mattscheibe des Fernsehers, mit einer Großaufnahme, als wäre es der entscheidende dramatische Moment einer Telenovela, kurz bevor die Werbung einsetzt. Beim tatsächlichen Todesfall ist Manuela keine Laie, es muss auch nicht geschau-spielt werden, wobei es ihr natürlich freistünde es dennoch zu tun. Almodóvar lässt sie nun aber die klassische Dramaturgie vergessen und quittiert den schmerzhaften Moment mit unergründlichem Schluchzen/Schweigen, auch einem Schweigen gegenüber der wortverliebten Psychologie, eben Kino und nicht Fernsehen.

Die Psychologin nennt Manuela kurz darauf krank und verlangt von ihr Vernunft. Wie denn, entgegnet Manuela barsch und geht. Diese wenigen Zeilen zeigen sehr klar die Diskrepanz zwischen auf der einen Seite dem Schauspiel, welches auf Komponenten aufgebaut ist (Worte, Dramaturgie), nach Ursache und Wirkung funktioniert und psychologisch erklärbar bleibt und dem Spiel auf der anderen Seite, dem Schweigen, der wortlosen hysterischen Äußerung und dem irreduzierbaren und absichtslosen Handeln.

Zwischen gestelltem und wahrem Organspendengespräch gibt es aber einen weiteren Unterschied, der nicht unbenannt bleiben darf. Einmal verliert Manuela angenommenerweise ihren Mann, dann ihren Sohn, ein Unterschied der in Almodóvars Welt gravierend ist und deswegen die von mit vorgenommene Gegenüberstellung schnell ad absurdum führen kann. Männer schneiden in TODO SOBRE MI MADRE, wie gesagt, nicht sehr vorteilhaft ab und nicht selten verlieren in Almodóvars Filme Frauen ihre Männer, ganz ohne Tränen. Der Sohn jedoch gehört in die Welt der Mütter. Wie kann also diese direkte Gegenüberstellung und der Vergleich dieser beiden Szenen bestand haben?

Es ist also nicht verwunderlich, dass Manuela, unabhängig ob gestelltes oder nicht gestelltes Gespräch, verschieden reagiert. Das interessante ist nun aber genau, dass der Film den Verlust des geliebten Sohnes mit der realen Situation verbindet, welche zum Spiel führt, wohingegen der imaginierte Verlust des Mannes nur Schauspiel ist. Das ist aber noch kein Argument.

Wenn meine These stimmt, würde das bedeuten, dass der imaginierte Verlust des Sohnes ebenfalls zum Schauspiel führen würde? Anders ausgedrückt stellt sich die Frage, warum lässt Almodóvar im gestellten Gespräch den Mann sterben?

Diese Frage kann ich nicht eindeutig beantworten. Es gibt wohl Hinweise, wie etwa die augenscheinliche Parallele die Manuela aufmacht, wenn sie ihren Mann als verstorben schau-spielt, zur tatsächlichen Situation mit Lola, der ja ebenfalls, für sie zumindest, gestorben ist. Oder die passende Union des Mannes mit dem Schauspiel, des Mannes als Diva, als flüchtiges rein gegenwärtiges Wesen, wie in VOLVER und anderen Filmen Almodóvars (SIEHE ANHANG). Was jedoch mit Bestimmtheit erkannt werden kann ist, dass Manuela in der einen Situation Mutter ist und in der anderen Mutter war. Und mit der Mutterschaft steht und fällt das Schauspiel. Deswegen wäre es durchaus interessant zu erfahren, wie Almodóvar eine Mutter zeichnet, die im Schauspiel ihren Sohn verliert. Womöglich ist aber genau dies nicht möglich, unvorstellbar in gewisser Weise, denn wenn die Muterrolle auf dem Schauspiel gründet und genau dieser Verlust, also der Verlust auch des Schauspiels geschauspielt werden soll, schaltet sich das Schauspiel selbst aus.

Einziger Anhaltspunkt den uns der Film hierzu liefert, ist auf der Eben des tatsächlichen Schauspiels von Cecilia Roth, die sich ja genau dieser Aufgabe stellen muss. Zwar erschöpfen sich hier die analytischen Möglichkeiten rasch, denn es bleibt letzten Endes ein Film, also Schauspiel?, aber jene Szene, in welcher Cecilia Roth den Tod ihrer Sohnes schau-spielen muss ist ja genau der Moment, wo sich Almodóvar für Roth das wortlose Schluchzen einfallen ließ. Nun windet sich diese Argumentation aber in einer endlosen Spirale zwischen Spiel und Schauspiel, wobei beide immer ununterscheidbarer werden. Cecila Roth schau-spielt, dass sie nicht schau-spielt (sondern spielt). Ich will die Überlegungen an diesem Punkt abbrechen, vermute aber, genau an dieses Punkt das Paradox von Schauspiel und Spiel zum Ausdruck gebracht zu haben, denn wie bereits erwähnt, ist das Spiel nicht vom Schauspiel zu trennen, es sei denn auf Kommunikation wird gänzlich verzichtet, was dann auch den Film hinfällig machen würde.

Tatsächlich hat Manuela eine Absicht wenn sie nach Barcelona geht, sie will Lola finden. Und diese Absicht ist zugleich der Großteil der Story von TODO SOBRE MI MADRE, so wenig. Da wundert es nicht, dass die Filme Almodóvars schwer nachzuerzählen sind, steht doch diese Absicht so wenig im Mittelpunkt des Films, und wird von Manuela gar ohne eine klar erkennbare Intention verfolgt, also ganz ohne Masterplan!

Da Lola lange Zeit nicht zu finden ist und auch niemand weiß, wo sie stecken könnte (sie ja noch nicht einmal gesucht wird!), dürfte man im Fortgang der Narration ein kaum zu überwindendes Hindernis finden, welches diese zum Stillstand bringt. Dem ist aber gar nicht so. Stattdessen findet ungemein viel Bewegung statt, denn die „Suche“ nach Lola ist gleichzeitig die Rückkehr in die eigene Vergangenheit für Manuela, ihre Abkehr von der Mutterschaft und ihre Rückbesinnung auf das Spiel.

2. Paradies?

Der Film führt den Zuschauer auf extrem emotionalisierende Weise nach Barcelona, durch den (Zeit-) Tunnel, wo bereits die träumerische/sehnsüchtige Musik einsetzt, weiter in einen Flug über den Tibidabo, welcher den Blick auf die Stadt und das Meer freigibt, danach im Taxi beim Sightseeing an der Sagrada Familia (jenem ewig im Bau befindlichen und fantastischen Glaubensmonument) vorbei und schließlich zu jenem unwirklich erscheinenden Ort, mit jenen fantastischen Personen, wo Manuela auf Agrado trifft. Es ist wie der Eintritt ins Wunderland, in Almodóvars bekanntes Territorium, wo die Transvestiten halbnackt auf einem Sofa im Freien sitzen, umringt von einem Autokorso, fast schon umworben, wo sich ihre fremdartigen Körper im flackernden Licht des offenen Feuers und der Scheinwerfer flüchtig wie ein Traum ins Bewusstsein des Zuschauers mogeln, wo tief in der Hocke die Hände geklatscht werden, wie im Kinderspiel. Dieser Ringeltanz soll der Strich sein?

Auf seine ganz eigene Art distanziert sich der Film von solch einer Idealisierung und spielerischen Darstellung des Strichs, jedoch ohne den Mythos zu zerstören oder den hinterlassenen Geschmack zu verderben. Manuela muss Agrado schlagkräftig zur Seite stehen, da ihr Freier sie bedroht. Nach ihrer Rettung ist Agrado jedoch besorgt um die Gesundheit des jungen Mannes, den sie wohl ganz gut zu kennen scheint und fast schon liebevoll Schwuchtel und einen fiesen Perversling nennt (Manuela wird lächelnd als alte Schlampe bezeichnet). Wie das Wort Schwuchtel in diesem Kontext nicht als beschimpfend betrachtet werden kann, so verliert auch der Transvestitenstrich nicht seinen Charme, auch wenn es ernst zur Sache geht.  An diesem Ort, so suggeriert die Einführung zumindest, wird gespielt, nicht aber geschau-spielt. Agrados Verletzung ist echt, genauso wie ihr Mitgefühl für den Niedergeschlagenen. Sie unterstellt ihm keine Absicht, keinen Vorsatz und verzichtet so darauf ihn als Bösen zu klassifizieren. Bestenfalls räumt er als Dummkopf das Feld, als dummer Junge16. Die Welt des Spiels exemplifiziert Agrado am besten.

3. Agrados Welt

Authentisch sein heißt dem Traum von sich selbst so nahe wie möglich zu kommen, so formuliert Agrado in ihrer Ansprache auf der Theaterbühne ihren Leitsatz. In Opposition zu dieser Überzeugung finden sich in Agrados Worten „Mamarachas“ wie Transvestiten mit Glatze, die Frauen sein wollen aber noch nicht einmal Haare haben, die Travestie mit Zirkus oder Schauspiel verwechseln. Agrado ist einerseits durch und durch falsch, von ihrem gefälschten Chanel Kostüm bis zu ihrem mit Silikon gefüllten Po. Gleichzeitig aber ist sie sehr ehrlich, verheimlicht ihre Tricks nicht und steht offen zu ihrer gewünschten Authentizität. Sie trägt Chanel aber verrät natürlich dass es gefälscht ist, Brüste, Lippen, Po – alles wird gebeichtet, ihre Vergangenheit als Lastkraftwagenfahrer – kein Geheimnis, dass sie einen Schwanz hat – offensichtlich. Dabei stößt ihr alles was nicht ehrlich/erträumt ist auf, wie die falschen Transvestiten, die nur mimen und sich nicht als Frau fühlen, Trockengestecke, die nur mehr das Abbild von Blumen sind (dann schon lieber zur Müllabfuhr) und das heimliche Verschwinden Manuelas ohne sich zu verabschieden, und sei es nur um zu Heulen. Dazu gehört auch sich gegen Drogen auszusprechen, bei Lola und bei Nina. Agrado ist Sinnbild für das Spiel und die Abkehr vom Glauben an eine feste Identität. Wichtig hierbei auch ihr Ausspruch, sie nenne sich Agrado17, weil sie allen das Leben so angenehm wie möglich machen will. Es ist diese nur auf den ersten Blick als Selbstaufgabe erscheinende Einstellung (ähnlich der Mutterschaft?), welche Agrado als eine Person definiert, die sich mit und über ihre Umwelt definiert, ohne der Umwelt – oder sich von der Umwelt – Kategorien überstülpen zu lassen. Von Selbstaufgabe kann nicht die Rede sein, bei einer Person die nach Schlägen, Verunstaltung und Raub derart frohgemut ihren Weg weitergeht. Vielmehr stellt sich die Frage, was dieses Selbst denn eigentlich sein soll. Agrado jedenfalls sieht sich als Model genauso wie als Putzfrau oder Müllarbeiterin. Dass sie von Lola beklaut wurde ärgert sie, aber sie gibt nicht auf, obwohl sie kein Geld mehr hat. Drogen kommen nicht in Frage. Stattdessen wird sie Humas Assistentin und ließt nun fleißig die Texte mit, wie sie zuvor als Nutte fleißig ihr Bild/Traum vom Model aufrechterhielt. Als Manuela sie fragt, ob sie im Theater ihren Job übernehmen will, nimmt sie erst an sie solle die Stella spielen, sieht sich aber viel eher in der Rolle der Blanche. Und tatsächlich ist die Ähnlichkeit zur Blanche/Huma Rojo/Margo/Betty Davis sehr groß. Alle haben gemeinsam, dass sie sich über ihr Spiel definieren. Anders als Huma steht Agrado jedoch mit beiden Beinen im Leben und verlässt sich nicht blind auf die Güte anderer – sie kann Autofahren. Sie lässt sich nicht von den Strömungen des Lebens packen sondern steuert aktiv mit. Ihr ist eben klar, dass sie, wenn sie dem Traum von sich nahe kommen will, einen Effort leisten muss. Bestes Beispiel für diesen unbedingten Drang auf ihre Art authentisch zu sein ist ihr Äußeres, welches in Opposition zu ihrem Geschlecht steht. Wo Huma sich selbst im Spiel verliert, weil sie so sehr versucht die andere Person zu sein (Blanche deren Text sie im wirklichen Leben zitiert oder Betty Davis der sie das Rauchen abschaute) findet sich Agrado im Spiel, weil sie nicht nur Personen nachahmt sondern ihre eigenen Träume auslebt.

Mütter

Manuela

Schon kurz nachdem sich Manuela in Barcelona eine Wohnung genommen hat, wird sie von Rosa gebeten sie aufzunehmen. Manuela lehnt dies ab und wiederholt ihre Weigerung einige Male. Zuletzt mit dem Verweis, dass sie nicht die Mutter Rosas sei. Rosa, die Probleme mit ihrer eigenen Mutter hat, darf schließlich doch bei Manuela einziehen und wird von dieser gepflegt, nachdem sich herausstellte, dass sie nun nebst Schwangerschaft und deren Gefährdung durch eine Krankheit auch noch HIV positiv sei. Aber nicht nur diese Meldung bestimmt Manuelas Entscheidung Rosa bei sich aufzunehmen. Einen Tag zuvor schlüpfte sie selbst abermals in die Rolle der Stella in A STREETCAR NAMED DESIRE und im darauf folgenden Gespräch (nach der Zusage an Rosa) mit Nina und Huma gibt sie nicht nur ihren Job auf, sondern bricht auch zum ersten Mal das Schweigen zum Tod ihres Sohnes.

Diese Wiedererzählung des Todes ihres Sohnes, welche gleich Erinnerungen an das Wiedererleben einer traumatischen Situation in der Psychoanalyse weckt, inszeniert Almodóvar mit Bedacht. Huma und Nina, zusammen mit Manuela in Humas Garderobe sitzend, lassen sich die ganze Geschichte über den Tod Estebans erzählen. Die Garderobe Humas ist nebst der Bühne der einzige Ort im Theater in dem Almodóvar Szenen spielen lässt. Sie ist klein und wird dominiert von zwei Spiegeln, welche im neunzig Grad Winkel zueinander angeordnet schier unendliche Möglichkeiten der Spiegelung und Rückspiegelung bieten. Genau diesen Spiegel, der in anderen Szenen mannigfaltig verwendet wurde und es oft schwer machte zwischen realer Person und Spiegelbild zu unterscheiden, weicht in jener Szene den Gesichtern von Manuela und Huma und verschwindet im Hintergrund, als würde nun nicht mehr die gespiegelte Repräsentation den Ton angeben für diese Enthüllung. Stattdessen blickt Huma aus dem Bild und es wird eine (falsche) Erinnerung an die Unfallszene aus der Sicht Humas eingeblendet. Neben dem Regen, der schon während der Erzählung Manuelas in der Garderobe beginnt (nicht diegetisch), sehen wir von innerhalb des Taxis Esteban an die Scheibe klopfen und Humas Namen rufen. Doch weder das Klopfen noch das Rufen fand statt. Die Situation wird also anders erinnert, für Huma dramatischer. Wie die Situation tatsächlich stattfand spielt keine Rolle, es kommt darauf an, wie sie erinnert wird und was sie in der Erinnerung bedeutet. Deswegen werden die bereits gezeigten Bilder der Szene auch nicht wieder gespiegelt. Es gibt nicht eine Wahrheit, es gibt nicht eine Perspektive, stattdessen gibt es einen Diskurs zu einem Ereignis, in welchem und durch welchen die Individuen sich definieren. Manuela fand also letztendlich doch die Worte, dieses Ereignis zu beschreiben, aber was sie beschreibt ist nicht was passiert ist, sondern was auszudrücken ist. Was sie also sagt ist weniger Wahrheit, sind weniger Worte, die ins Unglück stürzen, als vielmehr Ausdruck, Spiel, losgelöst vom Wahrheitsdiskurs. Da habt ihr die Erklärung, so ihre Worte nachdem sie geendet hat, da habt ihr die Erklärung. Eine Erklärung für Manuelas Verhalten bezüglich dem Theater – ja, eine Erklärung für das was passiert ist – nein. Keine Erklärung für die Gefühle Manuelas also. Die lange versagten Worte bringen keine Heilung, aber diesmal machen sie auch nichts kaputt, denn sie schaffen Raum für etwas Neues, was das Gewesene nicht zu erklären versucht. So fehlen denn Huma wie Nina die Worte. Als Huma einen Tag später das Autogramm bei Manuela abgibt, geschieht dies ebenfalls unter Verzicht auf weitere Erörterungen des Themas oder Hilfe- bzw. Entschuldigungsversuche. Ihrem Papier für den toten Esteban sind die Worte zu entnehmen, „Lieber Esteban, dies ist das Autogramm, dass ich dir nie gegeben habe, und nicht, weil du dich darum nicht bemüht hättest.“ Abrupt endet dieser Satz genau so, ohne darauf einzugehen, warum er es dann nicht erhielt. Es wird nicht versucht zu erklären. Die Worte bedeuten nicht mehr als Worte oder Erzählung, sie gehören der Kommunikation an, nicht dem was kommuniziert.

Diese Rückbesinnung Manuelas auf die Worte, aber diesmal der Worte als Ausdruck und nicht als Werte im Wahrheitsdiskurs, bettet der Film ein in die abermalige Übernahme einer Mutterschaft, für Rosa, die sie zu Hause pflegt. Die beiden Themen scheinen also zusammenzugehören. Zur Mutterschaft scheint es zu gehören zu kommunizieren, zu schau-spielen, nicht nur für den anderen da sein sondern für den anderen jemand sein, die Familie, die Mutter(rolle). Doch diesmal ist die Anordnung verändert. Zum einen steht Rosa selbst davor Mutter zu werden, zum anderen ist sie eben kein Kind mehr und war auch nie das Kind Manuelas, dem diese eine Welt kreieren musste. Es ist also eine offene und frei gewählte Familiensituation, die nicht Familienrollen schau-spielen muss sondern sich selbst spielend definieren kann. Die Mutterrolle für Rosa währt nicht lange. Vor der Geburt, also am Geburts- wie Sterbebett für Rosa, nimmt Rosa Manuela das Versprechen ab, ihrem Kind ALLES zu erzählen und nichts zu verschweigen, also genau das Gegenteil der Vorgehensweise die Manuela mit ihrem Sohn Esteban bevorzugte. Versprechen werden gegeben, wie ein Gegenstand dessen Besitz man aufgibt, ein Geschenk. Wer ein Versprechen nicht einhält fordert also ein Geschenk zurück. Rosa, die ihren Tod schon ahnte, weiß um die Bedeutung dieses Versprechens, denn von Toten kann nichts zurückverlangt werden. Manuela, die die neue Mutter vom neuen Esteban wird, da Rosas Mutter abermals die Mutterrolle ablehnt, ist nun verpflichtet alles anders zu machen. Sie nimmt Esteban dennoch wieder nach Madrid, doch der Kontext ist verschieden. Sie schreibt Agrado einen Abschiedsbrief und informiert sie über ihren Verbleib (Agrado mag Abschiede, auch wenn sie nur heult, weil sie ehrlich sind.). Auch kehrt sie zurück um ihre Freunde zu besuchen und weil ein Aids Kongress in Barcelona stattfindet, auf welchen sie den kleinen Esteban, der auf wunderliche Weise die HIV-Antikörper verloren hat, mitnimmt. Wir wissen nicht, wie Manuela nun mit Esteban in Madrid lebt und er ist wohl noch zu klein um ihr Versprechen einzuhalten und alles zu erzählen. Aber die Tatsache, dass das schwerwiegendste Erbe Rosas, die Krankheit, bei Esteban schon nicht mehr nachweisbar ist, stimmt nachdenklich. Wird Manuela ihm alles erzählen? Warum lässt Almodóvar die Antikörper verschwinden?

Für Manuela ist alles wie ein Neuanfang. Das neue Kind mit dem gleichen Namen vom gleichen Vater, die gleiche Reise nach Madrid. Dadurch, dass der kleine Esteban geheilt wird, erhält dieser Neuanfang eine Perspektive, Manuela bekommt also tatsächlich auf wundersame Weise die zweite Chance. Und ihre Rückkehr nach Barcelona spricht gegen die These, sie hätte sich entschlossen das Geheimnis zu wahren. Almodóvar inszeniert also eine sich auflösende und dann unter anderen Vorzeichen neu beginnende Mutterschaft, über den Dreh und Angelpunkt A STREETCAR NAMED DESIRE. Hier beginnt es mit der Bekanntschaft Lolas, hier endet es mit dem Tod Estebans, hier beginnt es von neuem mit der Wiederaufführung der Stella, der folgenden Übernahme der Wahlmutterschaft für Rosa/Rosas Sohn, der Akzeptanz und neuen Wortfindung des Todes ihres Sohnes. Sie gewinnt, verliert und gewinnt einen Sohn18.

Die im Film am häufigsten wiederholte Szene dieses Theaterstücks ist das Ende, als Stella sich von Kowalski lossagt (oder es zumindest will). Als Manuela aber die Szene spielt, wird der schlimmste Akt von Kowalskis Beleidigungen gegen Blanche gezeigt und der Moment, in welchem Kowalski die schluchzende Stella zur Geburt ins Krankenhaus bringt. So wird zum einen die Geburt Rosas Sohns als Bringer der erneuten Mutterschaft für Manuela bereits vorweggenommen, zum anderen wird aber nun der Hass auf Kowalski/Lola zurückgestellt bzw. verliert an Bedeutung. Kowalski/Lola ist deswegen nicht gut, aber er ist der Vater, er gehört dazu, er ist eben ein Mann und wird akzeptiert. Im Stück sagt er zu Stella, er habe sie aus den Säulen geholt und sie glücklich gemacht. Vielleicht wird es Stella deswegen nie schaffen ihn zu verlassen, wie es auch Manuela nie geschafft hat Lola ganz zu entkommen, die sie ganz zuletzt eine Epidemie nennt. Manuela scheint aber die einzige der drei Mütter des Filmes zu sein, die der Epidemie Lola standhält. Rosa findet den Tod und Rosas Mutter ist entsetzt über ihre Erscheinung ebenso, wie über die Antikörper im Blut ihres Enkelkindes. Aber Manuela kann Lola/Kowalski nun Paroli bieten, denn im Spiel kann auch Lola Manuela nicht unterdrücken, wie es Kowalski mit der spielenden Blanche nicht fertig brachte.

Rosa

Rosa ist die reinste der drei Mütter, das Ideal in gewisser Weise, jedoch ist sie auch nie wirklich Mutter sondern immer nur in der Schwebe, also dem Zustand Mutter werden zu wollen ohne es jemals zu sein – rein. Sie ist ehrlich und kann nichts für sich behalten, von Beruf aus hilfsbereit, auch gegenüber den Transvestiten, natürlich im Umgang mit Menschen, naiv aber vorbehaltlos gegenüber Lola und Manuela. Wenn Manuela die Frauen naiv nennt, kontert Rosa mit tolerant. Sie teilt offen ihre Meinung, ihre Gefühle und ihr Wissen. Manuela erzählt sie sehr schnell, dass sie schwanger ist, dann dass sie HIV-positiv ist, dass das Kind von Lola ist usw. Huma erzählt sie was Manuela über diese denkt, obwohl sie es nicht erzählen soll. Als Manuela Agrado mit Huma für die Arbeit verkuppeln will, erzählt sie Agrado, die von nichts weiß und verunsichert nachfragt, geradeheraus was vor sich geht, so direkt, dass selbst die das Spiel gewohnte Agrado es gar nicht glauben kann. Dazu war ihr Plan, ihren Dienst als Nonne in ein Kriegsland zu verlegen, wo ihre Vorgängerinnen ermordet wurden. Manuela verpflichtet sie vor der Geburt ihres Sohnes alles zu erzählen und beim Arzt im Krankenhaus hat Manuela Mühe ihr die Wahrheit zurückzuhalten. Dennoch ist auch Rosa unehrlich oder verschweigt die Wahrheit19, und zwar bezüglich allem was ihre Mutter betrifft20. Erst spät erzählt sie dieser, was ihr widerfahren ist und geht ihr zudem aus dem Weg. Rosas Mutter ist nun von Rosa sehr verschieden und außerdem ihre Mutter, weswegen diese Eigenheit nicht mit den anderen Momenten aufgewogen werden kann. Sie findet bei ihrer Mutter kein Verständnis, wie sie es von einer Mutter erwartet, vielleicht ist sie genau deswegen derart Hilfe gebend. Wenn ihre Mutter die rein rationale Ökonomin ist, auch was ihre Funktion als Mutter betrifft, so erwächst daraus Rosa, die vorbildlich emotionale Person (Mutter?), unökonomisch, naiv, tolerant. Aber dieser Charakter ist zu gut für die Welt, sie kann nicht überleben. So wird sie gestraft mit einer Schwangerschaft zu der der Mann fehlt, einer Krankheit die ihr bei der Geburt das Leben kostet und dem HIV-Virus, das sie auch noch an ihr Kind weitergeben muss.

Neben ihrer Reinheit und Ehrlichkeit ist sie geprägt von einer unerschrockenen Direktheit, die wenig auf die Meinung anderer gibt. Sie ist Nonne und schwanger von einem Transvestiten, eine farbenprächtiges Paradox, doch Rosa denkt nicht einmal daran das Kind nicht zu bekommen. Sie nimmt die Dinge wie sie kommen, wie auch den HIV Virus. Dabei stellt sie nicht ihre Person oder ihr Verhalten in Frage sondern passt sich der jeweiligen Lage an, bis zu ihrem letzten Moment. Deswegen gehört auch Rosa dem Spiel an, weil sie wandelbar ist, anpassungsfähig und nicht abhängig von festen Faktoren wie Ansehen oder Moral.

Als nicht von dieser Welt wird sie selbst von ihrer Mutter bezeichnet, so verwundert es nicht, dass sie es so schwer hat in dieser Welt. Letztlich ist sie wirklich diejenige, die nur existiert um anderen zu helfen, vor allem Manuela obwohl oder dadurch, dass sie sich von ihr helfen lässt. Ich hoffe der dritte Esteban wird dir bleiben, sind ihre Worte an Manuela kurz vor ihrem Tod. Zuvor verabschiedete sie sich von ihrer die Küsse und die Stunden zählenden Mutter und von ihrem nichts ahnenden Vater. Dann stirbt sie. Manuela ermöglicht sie so einen Neuanfang.

Rosas Mutter

Sie ist skeptisch gegenüber Fremden wie Manuela, die in ihr Haus kommen. Sie traut keinen Prostituierten und noch weniger dem Urteil ihrer eigenen Tochter. Sie fälscht Gemälde und ist darauf bedacht ihr Ansehen zu wahren. So soll niemand wissen, dass Rosa schwanger ist, vor allem die Nonnen nicht, dann soll niemand wissen, dass das Kind die HIV-Antikörper in sich trägt und auf der Beerdigung ihrer Tochter ist sie die einzige der bekannten Personen die nicht weint. Das soll aber nicht heißen ihre Tochter bedeute ihr nichts. In einem Gespräch in ihrer Wohnung bietet sie Rosa an Manuela bei sich aufzunehmen, wenn Rosa im Gegenzug nicht nach El Salvador ginge, denn dass sei Selbstmord, um nicht zu sagen Elternmord, so ihr Worte. Rosa solle zum Psychiater gehen, denn ihr Verhalten sei unverständlich. Hier zeigt sich ihre „Wissenschaftsgläubigkeit“, ihre Affinität zur Technik, in der es nur falsch und richtig, Funktionieren und kaputt gibt. Rosa ist kaputt, sie soll gerichtet werden. Ebenso ist ihr Beruf, Bilder fälschen, keine Kunst sondern Technik. Mutter zu sein ist für sie keine Leidenschaft, sondern eine Aufgabe, im doppelten Sinne des Wortes. Deswegen versucht sie die Verluste so gering wie möglich zu halten. Den Selbstmord noch im gleichen Atemzug als Elternmord anzuklagen beweist ihre Selbstbezogenheit. Sie ist jemand, der von den Menschen fordert und ihnen nicht wie Rosa hilft, zumindest nicht ohne Gegenleistung und ökonomischem Gleichgewicht21. Da sie nach dieser Maxime lebend nicht auf Freunde bauen kann sondern bestenfalls auf Partner, wird deutlich warum es so wichtig für sie ist immer das Ansehen oder den Schein zu wahren22. Rosas Mutter ist eine Schauspielerin, die sich jedoch weigert bzw. es nicht schafft die Mutterrolle zu spielen. Gar scheint die Mutterrolle mit dem Schauspiel nicht vereinbar zu sein, obwohl gerade der Fall von Manuela in Madrid das Gegenteil zu zeigen schien.

Manuela schau-spielt für ihren Sohn in Madrid. Rosas Mutter schau-spielt nicht für ihre Tochter sondern an und für sich. Ihre Tochter weigert sich infolgedessen zu schau-spielen. Esteban hingegen lebt ganz in der Welt des Schauspiels. In beiden Fällen aber bleibt die Person, welche hinter der Muterrolle steckt, den Kindern fremd. Es zeigt sich die Gefahr des Schauspiels welches in der Muterrolle lauert.

Ihr Alzheimer kranker Mann spielt kaum mehr eine Rolle in ihrem Leben und sie überlässt ihn meist dem Hund. Wiederholt weist sie auf sein fehlendes Verständnis hin, wodurch die beiden Lügen gerechtfertigt werden, nämlich einmal, dass Rosa schwanger ist und bei Manuela lebt, was ihm verheimlicht wird, das andere Mal, dass das Kind von Manuela sei, um seiner Eifersucht zu entgehen. So wird gelogen da mit der Wahrheit ohnehin nichts als Ärger erreicht werden kann.

Manuelas Sprung

Einen großen Wendepunkt markiert die Szene, welche Agrado zu Huma und Rosa (letztendlich Rosas Kind) zu Manuela bringt. Die vier Frauen sitzen beisammen und plaudern ausgelassen zum Sekt, während sie gewichtige Zukunftspläne schmieden. Auf eine fröhlich leichte Art hören wir so Paradoxien wie die Bemerkung, dass Chanel perfekt zu Nonnen passe, Agrado nicht so dumm ist wie sie aussieht aber dennoch nichts versteht, Manuela Frostbeulen hat seit sie in Barcelona ist (in Madrid ist es im Sommer zwar heißer aber im Winter auch kühler!), Rosa die Nonne gerne Schwänze mag, Agrado ein Ausbund an Diskretion ist, Huma eine wunderbare Schauspielerin und Versagerin ist, (was ein Geheimnis war das ausgeplaudert wird), Agrado die Fans von Huma ist (Vielheit und nicht nur ein Fan wie Esteban) und dass Manuela und Rosa Schwestern sind. Manuela, die dieses Gespräch initiiert mit den Worten, trinken wir etwas und entspannen uns, ist der Erfolg der Aufführung vielleicht doch zu Kopf gestiegen, denn sie bestreitet bereits die nächste Aufführung, in welcher sie für alle zusammen die Bande für die Zukunft knüpft, im Spiel. Nichts vom Gesagten ist wirklich ernst zu nehmen und dennoch ist alles authentisch. Es ist das Paradox an sich, welches hier überdeutlich zur Weltanschauung wird. Rosas aufrichtige Art und ihre Hilfsbereitschaft sind ideal um Nonne zu sein, aber dazu gehört auch ihre Lust auf Schwänze und Chanel. Agrado repräsentiert schon mit ihrem Körper üppigen Überschwang und ist dennoch loyal, verlässlich und diskret, auch in diesem Gespräch. Manuela, über die wir so am wenigsten Erfahren, weil sie die Leitung übernimmt, holt sich in Barcelona Frostbeulen obwohl sie in Wärme gebettet ist, ähnlich dem Gefühl von kochend heißem Wasser auf im Winter kalt gefrorenen Händen, welches fühlbar zum kalten Wasser keinen Unterschied macht, aber die gefrorenen Finger dennoch verbrennt. Huma letztendlich, und dies ist ein großes Versäumnis der deutschen Synchronisation, nennt sich selbst eklektisch. Laut Duden ist sie also jemand, der weder ein eigenes philosophisches System aufstellt noch ein anderes übernimmt, sondern aus verschiedenen Systemen das ihm passende auswählt. Ihr steht alles, so dass sie sich letztendlich gar selbst verliert. Wenn Rosas Vater das Extrem des wissenschaftsgläubigen Menschen darstellt, der alles auf eine feste Einheit reduziert, ist Huma das andere Extrem, nämlich des eklektischen Menschen, der nur Vielheit kennt, dazwischen keine Zentren sondern reine Differenz. Manuela muss all diese Gegensätze vereinigen und den Sinn in Paradoxien finden, bei ihren Freunden, wie in ihrem eigenen Leben. Deswegen kann sie auch nicht einfach vom Schauspiel Madrid zum Spiel Barcelona wechseln. Zum einen sahen wir bereits, dass sie auch im Madrid nicht frei vom Spiel war, zum anderen kann sie nun in Barcelona auch nicht auf das Schauspiel verzichten. Es fängt schon damit an, dass sie sich als Nutte ausgibt, um mit Agrado auf Jobsuche zu gehen, was eben eine Notwendigkeit darstellt. Auch das anfängliche Verschweigen der ganzen Wahrheit, als sie die Stelle bei Huma annimmt, gehört zu diesem Schauspiel, welches unerlässlich erscheint. Schließlich schützt sie damit auch Rosa, wenn sie im Krankenhaus für sie das Wort ergreift und später ihre Krankheit für sich behält. Ihre schwerwiegendste Aussage, welche dem Schauspiel angerechnet werden kann, der Notwendigkeit, der Ökonomie, der Psychologie oder dem zerteilenden Blick auf die Welt, tätigt Manuela kurz vor diesem eben beschriebenen lustigen Beisammensein, welches so herrlich leicht im Spiel mündet. Aber fast wäre alles anders gekommen. Gerettet wurde sie durch das Erscheinen von Rosa und Agrado. Als Huma sie nämlich darum bittet wieder bei ihr anzufangen, spricht Huma mehr von Hilfe für sich und Nina, als von einem normalen Jobangebot. Manuelas kalkulierte Antwort ist fatal: Bring sie doch in eine Klinik! Eben diese Entscheidung hatte auch die Stella zu treffen, doch Stella, mit der sich Manuela derart identifiziert, dass sie in ihre Rolle schlüpft und bei jeder Vorstellung heult, zweifelte und bereute ihre Entscheidung gar. In dem Moment aber schon als Manuela diesen Satz ausgesprochen hat, taucht Rosa auf, wandelt von einem Ende des Bildes zum anderen, wie eine Erscheinung der Jungfrau Marie, Manuela einen eindringlichen, mahnenden Blick zuwerfend, dem sich Manuela nicht entziehen kann und sie innehalten lässt. Eine praktisch exakte Wiederholung dieser Situation findet sich in Volver. Diesmal ist Penelope Cruz in der zentralen Mutterrolle und ihre Tochter mahnt sie zur Aufrichtigkeit. Sie telefoniert gerade mit ihrem Nachbar und will diesem erzählen, der potentielle Mieter für dessen Restaurant sei ein dubioser Mann, nur um das von ihr selbst illegaler Weise übernommene Restaurant weiterführen zu können. Der Blick ihrer Tochter erstickt die Lüge aber sofort, wie Rosa und Agrado diese „gelogene“ Lösung für Huma sofort aus der Welt schaffen und eine viel unorthodoxere hervorbringen. Dieses Geschehnis unterstreicht den Wendepunkt, in welchem sich Manuela endgültig von ihrem Stella Trauma lösen kann, nachdem sie die Rolle noch einmal spielte (oder psychoanalytisch wieder durchlebte), nachdem sie für Rosa die Wahlmutterschaft übernahm, nachdem sie bereit ist das Mysterium Blanche oder das Spiel in ihr Leben zu integrieren und nachdem sie dem Tod ihres Sohnes endlich einen Sinn abgewinnen konnte, nämlich den, für Huma/Blanche/die Vergangenheit/das Spiel einzustehen.

Im Wartebereich des Krankenhauses erzählt Manuela Rosa die Geschichte ihres Lebens. Sie schließt mit dem Resumée, dass Frauen nicht allein sein können und zudem doof und etwas lesbisch seien. Rosa kontert und bringt zur genau gleichen Lebensgeschichte das Adjektiv tolerant ins Spiel. In TODO SOBRE MI MADRE muss Manuela einen Sprung zwischen diesen beiden Positionen machen, was auch ein Sprung ist zwischen den beiden Extrempositionen der rein ökonomischen Schauspielerin, wie sie Rosas Mutter verkörpert und vielleicht Manuela selbst in Madrid und der Spielerin, wie sie in verschiedenen Abstufungen mit Rosa (rein, ehrlich und direkt), Huma (süchtig, verloren und fantastisch) und Agrado (authentisch, selbständig, aufopferungsbereit23) gegeben sind. Weder Huma noch Rosa sind jedoch überlebensfähig und so wird sich Agrado um Huma kümmern und Manuela wird mit einer zu Agrado erkennbaren Parallele für Rosa sorgen. Was in TODO SOBRE MI MADRE also passiert bevor Manuela eine zweite Chance erhält, ist der Sprung oder vielmehr Rücksprung zur Person Manuelas bevor sie Mutter war. Hier angelangt, als Spielerin und Equivalent zu Agrado, wird sie nicht einfach schwanger, was sie beim ersten mal zur Flucht veranlasste, sondern sie entscheidet sich dafür Mutter zu sein und wählt in der Folge auch die Art der Familiensituation frei. Es findet eine Befreiung von gesellschaftlich vorherrschenden Rollenmustern statt, selbst im Kerne der Gesellschaft, der Familie. Diese Lossagung von gesellschaftlichen Normen ist zugleich die Lossagung vom Schauspiel der Identität und eine Hinwendung zum performativen Spiel mit dem Selbstverständnis.

Schluss

TODO SOBRE MI MADRE, gemacht vom zitatwütigen Pedro Almodóvar, lässt merkwürdigerweise den Verweis auf einen Film vollkommen außen vor, der als Zitat

ein Volltreffer hätte sein können. Vielleicht liegt es daran, weil er nicht in die Fallinie des Melodrams passt, dass sich so gar keine Anspielung auf Bergmans PERSONA findet. Dort versagen der Schauspielerin während der Aufführung die Worte, weichen einem Lachen, dann Stille. Das Schauspiel ist vorbei. Die schweigende Frau muss sich mit ihrem geschwätzigen Ich auseinandersetzen. Die eine geplagt von ihren Lügen und ihrer Unaufrichtigkeit, ihrer Beliebigkeit, die andere in Sorge um ihre moralische Integrität, um ihr Über-Ich. Die Schauspielerin, die in der Überwindung ihrer selbst jeden Moment friedlicher und schöner wird, das Leben als Spiel entdeckt und die Anständige, welche zum Schauspiel drängt, sich damit schützen will vor ihrer gnadenlosen und kleinkarierten Weltauffassung. Die eine muss ihr Kind verstoßen und hört auf Mutter und Ehefrau zu sein, die andere wird die Mutter sein, aber nie authentisch. Beide sind eine Person die miteinander Ringen, deren Gesichter verschmelzen zu einem angsteinflößenden Abbild für das Kind, weil das Schauspiel nicht einfach weitergeht, die Persona/Maske aber bleibt; weil die Mutter nicht einfach Mutter ist, weil Alles sehr viel mehr ist als Eins.

Anhang

VOLVER

Ein Film über das Leben, deswegen ein Film über den Tod, und wieder über die Frauen, welche die Familien machen, wohingegen die Männer sie zerstören.

Es ist als würde diese Bewegung aus der Vergangenheit, die Mutter, die Eltern, die Gleichzeitig die Bewegung aus dem Reich der Toten ist, den Anschub geben für das Leben, das ansonsten wenig Sinn hätte und ohne diese Kraft auch gar nicht zu bewältigen ist.

Es ist die absolute und bedingungslose Liebe und Aufopferungsbereitschaft der Mutter, welche es der Tochter erst ermöglicht zu überleben, und diese Kraft wird von Generation zu Generation weitergegeben. Deswegen ist auch die Polizei, der Staat oder jedwede andere exekutive, männliche Gewalt in der Familie unerwünscht, einer Familie, die ihre Angelegenheiten lieber selbst regelt.

Es ist das Begleiten in den Tod, das sich Revanchieren, als würde der Zeitpfeil nur durch die Energie der Vergangenheit in die Zukunft gedrückt, die Gegenwart erscheint verschwindend gewichtslos, wie die Männer, welche diesem harten aber ehrlichen Bund des Energieaustausches nicht gewachsen scheinen.

Wenn die Tochter verzweifelt ist, weder ein noch aus weiß, ist da immer noch die Mutter an ihrer Seite, welche ihr ohne zu zögern all ihre Hilfe anbietet, und die größte Hilfe von allen ist und bleibt den anderen ohne jegliches Infragestellen zu akzeptieren, zu unterstützen und zu fördern. Es ist dieses Sinn geben, dieses das Leben neu beleben durch die Magie des Sterbenden/Alternden, und auf der anderen Seite der Sinngewinn des Sterbenden/Alternden an seinem eignen Fleisch und Blut, welcher den Generationenvertrag eigentlich erst ausmacht, und nicht etwa der Erhalt der Alten durch die marode Rentenkasse, wie wir das heute gerne sehen. Die Moderne dividiert die Sterbenden gerne aus ihrer Architektur hinaus, so konnte es geschehen, dass wir diesen Bund der Generationen und seinen wahren Wert verkannten, zumal sie uns aus den Augen und aus dem Sinn geschafft wurden, die Alten, die Familie, die Eltern. Doch nicht nur aus dem Sinn, auch der Sinn selbst bricht ein, der Elan verliert seinen eigenen Schwung, für jung und alt, gibt es doch nichts größeres als bedingungslose Liebe, Liebe, wie sie nur zwischen Eltern und Kindern entstehen kann, wie sie auch nur aus dieser verwandtschaftlichen Konstellation in derartigen Hass umschlagen kann. Nicht etwa die Liebe zwischen Kate Winslet und Leonardo di Caprio in Titanic vermag so großes zu vollbringen, als dass sie das Leben selbst retten könnte. Die Liebenden sind nur eine Etappe, ein vorläufiger Zusammenschluss, der aber eigentlich erst in der Familie seine Vollendung findet. Immer weniger wird die Tradition gepflegt in eine Familie zu heiraten, immer mehr wird der eine oder die andere geheiratet, möglichst mit dem Versuch der jeweils anhängenden Familie zu entgehen. Die Vorbehalte obliegen, jeder bleibt lieber bei sich, die Familien untereinander feinden sich an, solange, bis es ans Sterben geht. Dann jedoch erkennt jeder seine Pflicht und der Kreis der Familie weitet sich aus.

Die Männer jedoch lernen nicht zu lieben, sie bleiben geschlechtlich, irregeleitet, eigentlich isoliert in ihrer ewigen Selbstbefriedigung. Sie schließen keinen Bund über die Zeiten, sie bleiben gegenwärtig, realistisch nennen sie es selbst, und beharren auf Ordnung und Gesetz, als würde sich das Leben so lenken lassen. Männer überdauern die Filme von Almodóvar nicht, weil sie flüchtig sind, allzu gegenwärtig, sie erzählen zu wenig Geschichte und sind kaum mehr als das, was sich in eben jenem Moment ihres Erscheinens vor der Linse zeigt. Zeigen andere Filmemacher das Mysterium der Frau in diesem Lichte, so lässt Almodóvar den Mann zum fatalen Unheilsbringer avancieren, der den Frauen nur Leid bringt, Leid dem sie sich nicht erwehren können, denn auch sie sind dem homme fatal verfallen. Aber Männer haben hier keine Illusionen, keine Träume, keine Tradition und somit mit den wahren Regeln des menschlichen Zusammenlebens nichts gemein. Männer sind asozial. Sie versuchen nicht zu kitten, sie entzweien. Sie sind die eigentlichen Diven, die verwöhnten, von den Müttern verwöhnten, die, die die geschenkte Liebe verpfändeten, verschwendeten und dann noch mehr verlangten, wohingegen die Mädchen schon immer sparsam sein mussten.

Literatur

Film:

– TODO SOBRE MI MADRE

Spanien / Frankreich 1999, Deutsche Synchronfassung

Regie: Pedro Almodóvar, Buch: Pedro Almodóvar, Kamera: Affonso Beato, Schnitt: José Salcedo, Musik: Alberto Iglesias, Produzent: Agustín Almodóvar , Produktion: El Deseo S.A., France 2 Cinéma, Renn Productions

– VOLVER

120min, Spanien (2006) Regie: Pedro Almodóvar Kamera: José Luis Alcaine Produktion: Esther García, Agustín Almodóvar Verleih: Monopole Pathé Films

– EXPEDITION INS GEHIRN

3-teilige Wissenschaft-Doku, 3 x 52 Min., Buch, Regie, Produktion: Petra Höfer und Freddie Röckenhaus, Wissenschaftliche Beratung: Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth (Universität Bremen), Dr. Darold Treffert (Wisconsin Medical Society, Madison/USA)

Text:

– Geuens, Jean-Pierre: The Digital World Picture, In: Film Quarterly, Vol. no. 55, Issue no. 4,

S. 16-27, Berkeley, California Press, 2002

– Heidegger, Martin: Die Frage nach der Technik, In: Vorträge und Aufsätze, F. a. M.,

Klostermann, 2000

– Marias, Javier: Mein Herz so weiss, München, Heyne, 1992

– Deleuze, Gilles: Das Bewegungs Bild, Kino 1, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1989

– Derrida, Jacques: Guter Wille zur Macht I und II, In: Phillip Forget (Hrsg.), Text und

Interpretation, München, Fink, 1984

– D. Diderot (1778) Das Paradox über den Schauspieler, Ffm, 1964

– Gadamer, Hans-Georg: Und dennoch: Macht des Guten Willens, In: Phillip Forget (Hrsg.),

Text und Interpretation, München, Fink, 1984

– Didi-Hubermann, Georges: Erfindung der Hysterie – Die photographische Klinik von Jean

Martin-Charcot, München, Fink, 1997

– Breuer, Josef/Freud, Sigmund: Studien über Hysterie, Frankfurt a. M.,  Fischer Taschenbuch

Verl., 2003

– Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1991





  1. Das spanische actuar wie das englische act stehen für Handeln und Schauspielen. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen. Somit ist also der, der Schauspiel (als scheinbare Handlung) als solches isoliert erkennen will, eigentlich derjenige der diese Trennung einführt, wohingegen der Spieler (der Handelnde) diese Trennung nicht kennt. Dass diese Arbeit mit der Trennung operiert liegt daran, dass genau dieses Verhältnis herausgestellt werden soll.
  2. Bei Gilles Deleuze wäre die Rede von aufgeschobener Reaktion, die das Indeterminationszentrum vom nicht zentrierten Universum abhebt.
  3. Verstehen als das Ziel der Kommunikation. Die Auseinandersetzungen zwischen Derrida und Gadamer zeigen, das es ein sehr umstrittenes Thema ist, ob Verständnis tatsächlich vollkommen und im Sinne einer abgeschlossenen Aktion erreicht werden kann.
  4. Jeder Mensch ist ein Unikat und biologisch verschieden von anderen Menschen.
  5. Die exakt gleiche Erfahrung zu machen wie ein Anderer hieße, den Zeitpfeil zurück drehen und sich an seiner Stelle den exakt gleichen Umständen aussetzen. Der Austausch des erfahrenden Subjekts stellt jedoch schon eine Veränderung dar, weswegen der rein theoretisch mögliche (und extrem unwahrscheinliche) Rücksprung auf dem Zeitpfeil, nicht die gewünschten Ergebnisse erzielen kann.
  6. Oder auch gläubig und somit auf kurz oder lang auch fanatisch oder fundamentalistisch.
  7. Ehrlichkeit ist freilich ein Begriff, einer Sprache, also einem digitalen System zugehörend. Deswegen impliziert Ehrlichkeit auch Unehrlichkeit und vereist damit auf Wahrheit und Lüge, was ja genau umgangen werden soll. Da aber diese Ehrlichkeit dem System der Kommunikation entstammt (und es mir auch nicht möglich erscheint für diese Arbeit einen Schein zu bekommen ohne sie zu kommunizieren) will ich sie ins Bewusstsein verlegen und das Bewusstsein abtrennen von jeglicher repräsentativer Funktion zur Beschreibung der materiellen Welt. Ich stehe mit der Annahme, das Bewusstsein als eine Illusion zu betrachten, auch nicht ganz allein, gibt es doch zeitgenössische Kognitionswissenschaftler welche diese Möglichkeit ebenso in Betracht ziehen, wie die Fernsehreihe Expedition ins Gehirn berichtete. Wenn ich also von unehrlichen Subjekten spreche, ist damit gemeint, das diese Subjekte die in ihrem Bewusstsein stattfindenden Kategorien als Repräsentation der materiellen Welt und somit ihres eignen „Funktionierens“ begreifen, der Welt sozusagen eine Matrix überziehen, und nicht bereit sind mit der chaotisch anmutenden Bürde der Vielheit zu leben.
  8. All about Eve heißt eigentlich alles über meine Mutter und nicht Eva ohne Hüllen bemerkt Esteban, woraufhin Manuela sinniert, Alles über meine Mutter, was für ein merkwürdiger Titel, was wiederum Esteban auf die Idee bringt seine Notizen so zu nennen, womit er dann gleich den Film betitelt, mit dem Stift in die Linse geschrieben, aber mit Tinte die nicht zu sehen ist.
  9. Siehe nächster Absatz: Alles ohne Hüllen?
  10. Siehe: Geuens, Jean-Pierre: The Digital World Picture
  11. Almodóvar lässt den Anstoß des Dramas (Estebans Tod) über das Theaterstück mit der Bekanntschaft von Lola und Manuela koinzidieren. Dies ist auch der Beginn und das Ende der Mutterschaft. Deswegen ist es genau an Estebans Geburtstag.
  12. Als Manuela kurzerhand die Rolle der Stella übernimmt, führt sie als Qualifikation ihre Fähigkeit zu lügen an. Sie fügt dem noch hinzu, dass ihr Sohn sie für eine gute Schauspielerin hielt. Da wir nun aber wissen, dass ihr Sohn sie nie auf der Bühne sah, bleibt anzunehmen, dass sie mit ihrem Schauspiel nicht die Bühne meinte und ihr Sohn wohl ihren „Lügen“/Mutterrolle verfiel.
  13. Unehrlich nicht im dem Sinne, dass es ja nur eine gestellte Situation ist, sondern derart, dass Manuela hier eine Rolle annimmt, die mit sich selbst nicht ehrlich ist, nicht wahr-haben will.
  14. Siehe: Die Psychoanalyse als Kommunikation, Hauptseminararbeit im Seminar Hysterie bei Jörg Wiesel, Fu Berlin, Sommersemester 2006, Christopher Haug
  15. The Movie was inspired by one of the characters of The Flower of my Secret, Manuela, the nurse who appears at the beginning, an ordinary woman, who participates in the training for the surgeons who do transplantations; in this training a hypothetical mother is being informed about the death of her son. When I shot this scene I noticed, that the female actors were much better in interpreting their role than their male colleagues and I developed the idea to realize a movie that deals with the ability to act of some persons who are no actors., explained the director. http://www.almodovarlandia.com/almodovarlandia/movies/filmtodosobre.htm
  16. Ist nicht der Begriff dummer Junge oder dummer Jungenstreich selbst schon Teil des Eltern-Kind Diskurses, der das Schauspiel der festen Rollenzuweisung überschreitet, indem er z.B. Schuld relativiert, Schuld spielerischer betrachtet? Wie die schuldlose Schuld der Tragödie, die Kierkegaard in der ernsten, der ethischen, der kompromisslosen und eindeutigen Welt in Gefahr und nur im Ästhetischen seine Erfüllung finden sieht.
  17. Von agradable = angenehm. Agrado kann als der Angenehme oder der angenehm Machende verstanden werden. Interessanterweise wird die passende maskuline Form gewählt, wie auch bei Huma die (nicht existente) weibliche Form verwendet wird und nicht etwa Humo = Rauch.
  18. Beachtenswert sind die Parallelen zum Theaterstück. Stella wird von Kowalski aus den Fesseln des starren Bürgertums befreit, verfällt seiner Grobheit, will von ihm loskommen doch fällt immer wieder auf ihn zurück, da er ihr doch zu geben scheint, was sie sucht. Erst als Blanche auftaucht, wird Stella spiegelbildlich vor Augen gehalten, dass Kowalski keinerlei Imagination oder Verträumtheit duldet. Er ist der Schauspieler, den starken Mann markierend, der neben sich keine Spiel (Blanche) akzeptiert. Es macht ihn geradezu verrückt, dass er Blanche nicht nachhaltig treffen kann, egal welche Bosheit er ihr antut. Manuela wiederum macht mit Lola den Sprung nach Europa und will ein neues Leben beginnen, doch Lola wird zur Diva, welche keine Aufführungen (oder kurzen Miniröcke) neben sich duldet. Der Macho ist eine Rolle, die sich als Charakter etablieren will und dabei das (hysterische) Spiel ohne festen Kern/Charakter verdrängt.
  19. Das Wort Wahrheit im Zusammenhang mit Rosa ist immer eine performative Wahrheit, also ohne festen Wert.
  20. Hier zeigt sich wieder eine spiegelbildliche Verkehrung: Wie Manuela und Esteban sich nicht finden können, kann Rosa „alles über ihre Mutter“ nicht erlangen, nur dass Rosa vermutlich das Gegenteil von Esteban darstellt, weil auch ihre Mutter im Gegensatz zu Manuela vollkommen frei vom Spiel zu sein scheint.
  21. Manuela bietet sie Geld dafür an Rosa zu bemuttern.
  22. Weiß es jemand, wissen es die Nonnen, so ihre besorgten Fragen als sie von Rosas Lage erfährt.
  23. Aufopferungsbereitschaft oder Hilfsbereitschaft sind entscheidende Schlagwörter im Spiel. Die Vorgabe für das Spiel war eine performative Identität. Dies fördert einerseits Toleranz, andererseits vermindert es Selbstbezogenheit. Für die anderen da sein oder den anderen das Leben angenehm machen, also die Hilfsbereitschaft oder Aufopferungsbereitschaft, ist eine notwendige Konsequenz für das Handeln eines Individuums, welches sich selbst nicht mehr um ein fixes Zentrum aufbaut, weil die Identität sich immer im anderen findet. Identität also als keine isolierte Erfahrung sondern als die Erkenntnis des Eigenen im Anderen. So ist denn auch Aufopferungsbereitschaft weniger ein das Selbst Zerstörende, wie dar Terminus vielleicht andeuten mag, als ein das Selbst Findende, was folglich nichts oder nur wenig mit Mutter Theresa zu tun hat.
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